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Republik in Etappen

Im November jährt sich die Ausrufung der Republik Österreich zum 100. Mal. Hubert Nowak blickt in seinem neuen Buch auf einen schwierigen Weg in die Gegenwart

Hubert Nowak01.01.2018

Eine glatte Entwicklung sieht anders aus. Es war ein Jahrhundert voller Brüche und Umbrüche. Da war eine Monarchie untergegangen, ein Weltreich zusammengebrochen. Zunächst war das, was dann am 12. November im Parlament in Wien proklamiert wurde, gar nicht die Republik Österreich. Sie nannte sich „Republik Deutschösterreich“.  Weil man gar nicht an die Überlebensfähigkeit als kleiner, eigenständiger Staat glaubte. Aber die Siegermächte untersagten den „Anschluss“ an Deutschland. Auch dort hatte man die Kriegsniederlage und den Abschied von der Monarchie zu verkraften, war aber doch wesentlich größer und wirtschaftlich stärker. Dennoch sollte der „Anschluss“ an Deutschland ein schicksalhaftes Thema noch für Jahrzehnte bleiben.
1938 wollten ihn zumeist nur noch die Nazis, auf beiden Seiten. Da kam er auch. Und wie! Mit allem, was als Zweite Katastrophe der Weltgeschichte bekannt ist. Danach, 1945, machten die Siegermächte nicht mehr den Fehler von 1918, indem sie die Verlierer noch mehr demütigen und noch mehr schädigen wollten, als es durch den Krieg an sich schon passiert war. Nur so konnte der Kreislauf von Rache und Vergeltung unterbunden werden. In Österreich wurde die Zweite Republik ausgerufen, aber ein friedliches, selbstbestimmtes und prosperierendes Leben war dem Land noch lange nicht vergönnt. Zehn Jahre war man von den Alliierten besetzt, erst 1955 kam mit dem Staatsvertrag die Freiheit. Österreich war, im Gegensatz zu Deutschland, wenigstens eine Teilung erspart geblieben. Erst ab da konnte ein wirklicher Aufbau beginnen, erst ab da hat sich Österreich in seiner Identität als kleines, aber selbständiges und durchaus überlebensfähiges Land gefunden. Heute gilt es trotz der Kleinheit als selbstbewusstes Mitglied der europäischen Staatenfamilie.

Abschied von der Monarchie
Aber der Anfang war alles andere, als von einem Zauber geprägt, wie er laut Hermann Hesse angeblich jedem Anfang innewohnt. Der Abschied von der Monarchie war den geschlagenen Österreichern gar nicht so schwer gefallen. Dieses feudale System hatte sich überlebt, nicht nur deshalb, weil es den Krieg angezettelt und dann nicht gewonnen hatte. Der Neubeginn war das viel Schwierigere. Hatte man doch schon viel bessere Zeiten erlebt. An deren Qualität wollte man wieder anschließen, nur eben in einer neuen Ordnung.
Denn dieses Jahrhundert hatte als Goldenes Zeitalter begonnen. Kaum eine Zeitspanne in der Menschheitsgeschichte war derart von Aufschwung, Innovationen, Kreativität und Lebensfreude geprägt, wie die Zeit der Jahrhundertwende. Gewiss, es gab auch Modernisierungsverlierer, wie man das heute nennt. Nicht wenige sogar. Die vielen ungelernten Taglöhner, Hilfsarbeiter, die Migranten. Die „Ziegelböhm“ und viele andere, die in Baracken hausten, in Lagern, wie Flüchtlinge heute, abseits jeglicher Bildungschance, abgeschnitten von jenen, die den Aufstieg lebten und erlebten. Aber, mein Gott, das war die Randerscheinung, der Kollateralschaden des neuen Lebens, des Aufschwungs, des Glaubens an eine positive Zukunft.
Da sollte ein kleiner Waffengang nicht viel stören. Der schon 84-jährige Kaiser Franz Joseph bemühte sich für die Kriegserklärung an Serbien nach der Ermordung von Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo aus der kaiserlichen Villa in Bad Ischl nicht einmal nach Wien. Aber schon nach wenigen Tagen war die halbe Welt in Vollbrand gestanden. Zu viele waren es in ganz Europa, die sich einen Krieg gewünscht hatten. Auch Deutschland, hoch gerüstet und selbstbewusst, stürzte sich wie all die anderen Schlafwandler (Christopher Clark) ins Waffengebrüll.
Vier Jahre später hatten rund zehn Millionen Soldaten auf zahlreichen Schlachtfeldern ihr Leben verloren. So genau weiß man das nicht. Noch weniger weiß man die zivilen Opfer. Insgesamt etwa 15 bis 21 Millionen.
Ganz Europa lag am Boden. Einige Länder, die Sieger, erholten sich etwas schneller, Österreich sollte Jahrzehnte brauchen. Letztlich verschlang der Große Krieg vier große Reiche – das österreich-ungarische, das deutsche, das russische und das osmanische Vielvölkerreich. Der Krieg schuf damit eine neue Wirklichkeit.

Schwieriger Neubeginn
Die Ausrufung der Republik war chaotisch. Schlagartig gab es mit dem Zusammenbruch der Monarchie praktisch keine organisierte Staatsgewalt mehr in Österreich. Kommunisten und Anarchisten versuchten, im Windschatten der unglaublichen Not die Macht an sich zu reißen. Die großen Parteien waren instabil, unerfahren und mit sich selbst ringend. Einige besonnene Köpfe nahmen das Heft in die Hand. Kaiser Karl musste abdanken, die kaiserliche Familie wurde vertrieben. Der Sozialdemokrat Karl Renner übernahm das Erbe der gescheiterten Monarchie. Man zimmerte eine neue Verfassung, wobei schon damals der Machtkampf zwischen Bund und Ländern begann. Es ist übrigens eine historische Mär, dass die Bundesländer die Republik gegründet hätten. Sie waren erst 1945 federführend bei der Ausrufung der Zweiten Republik. 1918 aber waren die Länder keineswegs fix an Bord.
Die westlichen Bundesländer hatten eine historisch verwurzelte Abneigung gegenüber der Zentrale in Wien. Die ist bis heute spürbar.  Vorarlberg wollte sich als eigener Kanton der Schweiz anschließen. Dort lehnte man dankend ab. In Tirol votierten 1921 bei einer Volksabstimmung 98 Prozent für den „Zusammenschluss“ mit dem Deutschen Reich, in Salzburg sogar 99 Prozent. Aus Bayern waren Lockrufe an die österreichischen Bundesländer zu vernehmen. 1918 hatte der Bayrische Landtagsabgeordnete Georg Heim (Bayerische Volkspartei, BVP) vorgeschlagen, „Bayern solle aus dem Deutschen Reich austreten und mit den stammesverwandten Ländern Österreichs – Tirol, Salzburg und Oberösterreich, eventuell noch Vorarlberg – einen eigenen Staat bilden. In Kärnten musste nach dem Abwehrkampf gegen die einfallenden Truppen des jungen SHS-Staates erst in einer Volksabstimmung die Zugehörigkeit zu Österreich und damit die Staatsgrenze fixiert werden, und auch im Burgenland war die Grenze noch nicht sicher, zumal die größte Stadt Ödenburg in einer manipulierten Volksabstimmung Ungarn zugeschlagen wurde.

Mächtiger Föderalismus
Ganz im Gegensatz zu diesem unsicheren Verhältnis zwischen Bund und Ländern steht das, was heute „Realverfassung“ heißt. Die heutige Stärke der Länder ist ein Kind der Zweiten Republik. Obwohl die Verfassung den Ländern keineswegs so viel Macht einräumt, haben die sich ihren Einfluss ständig erweitert. So manchem Bundespolitiker treibt das heute Schweißperlen ins Gesicht. Zuletzt erlebte man das sogar bei den jüngsten Regierungsverhandlungen. Selbst die ÖVP-dominierten Bundesländer waren nicht einhellig begeistert über die Reformpläne des siegreichen jungen Bundeskanzlers Sebastian Kurz, obwohl dieser den Wahlsieg der ÖVP, eigentlich ja der „Liste Kurz“, erst nach starken Machtzugeständnissen aus den Länderorganisationen eingefahren hatte.
Die Unsicherheit in der Startphase der Republik zeigte sich auch in vielen Nebenaspekten. Man hatte keine Hymne und kein Staatswappen. Obwohl sich in Deutschland 1922 die Weimarer Republik der alten österreichischen Kaiserhymne von Joseph Haydn bemächtigt hatte, wollte man auch hierzulande nicht auf den Bezug zur alten historischen Größe verzichten, und so blieb die Hymne der Habsburgermonarchie, mit Unterbrechungen und textlichen Variationen, bis 1945 das musikalische Staatssymbol Österreichs. Besonders im austrofaschistischen Ständestaat wurde diese Melodie wieder gerne abgespielt, nach dem Anschluss von 1938 dann sowieso, mit dem Text „Deutschland, Deutschland, über alles“.
Auch da gab es letztlich erst Klarheit nach dem Zeiten Weltkrieg. Dennoch bekommen viele Österreicher bei der deutschen Hymne heute noch nostalgische Zuckungen, selbst wenn sie jung und stramme Republikaner sind. Vielen gefällt sie einfach musikalisch besser als die seit 1945 gültige Hymne, die man lange fälschlicherweise Wolfgang Amadeus Mozart zugeschrieben hatte. Aber die „fade“ Holzer-Melodie ist heute akzeptiert. Mit Pathos hat sich die Bevölkerung ohnedies nie zu dieser Republik bekannt. In der Ersten Republik sowieso nicht, und in der Zweiten war der Pragmatismus Träger der Identität. Pathos kann auch verblenden. Vielleicht ist das die Lehre der Österreicher aus der Vergangenheit und den Irrwegen.

Angekommen in der Normalität
Durch seine Geschichte als völkerübergreifende Monarchie war Österreich kein gewachsener klassischer Nationalstaat, wie etwa Frankreich. Österreich kann sich nicht als Sprachnation definieren, über die Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft, sondern als Staatsnation, über das politische Gemeinwesen. Der Prozess der österreichischen Nationswerdung ist gleichzeitig der Prozess der Herauslösung aus einer anderen, der deutschen Nation.
Das kleine Kernland des einstigen Vielvölkerstaates sieht sich heute im Zentrum eines gemeinsamen Europa – und in der Angst, dass auch dieses schon wieder zu zerfallen droht. Die nationalen Egoismen rundum nehmen zu. Mit dem Scheitern des Kommunismus im Osten glaubte man 1989 an das Ende aller Konflikte im Kontinent. Die Rolle des „In between“ hatte ausgedient, vielleicht hat auch deshalb 1994 die Mehrheit für den Beitritt zur EU gestimmt. Auch da ohne Euphorie. Man ist mehrheitlich für Europa, hält aber auch an der Neutralität fest. Man weiß ja nicht, ob man sie nicht doch noch einmal braucht.
Die vielen Schläge der Geschichte sitzen tief. Aber dennoch ist das Land nicht mehr auf der Suche. Es ist angekommen – in sich selbst, in der Normalität eines europäischen Staates.


 

Lesetipp

Hubert Nowak
Ein österreichisches Jahrhundert 1918–2018
Molden Verlag
256 Seiten
27,90 Euro

Hubert Nowak
Dr. Hubert Nowak, RC Perchtoldsdorf, ist Buchautor und Medienberater. Er war 40 Jahre lang als Journalist und Manager in verschiedenen Funktionen im ORF tätig, darunter als Moderator und stellvertretender Chefredakteur der „Zeit im Bild“ und als Landesdirektor des ORF Salzburg.

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