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„Es wird schon nix passieren“
Während Österreich in der Neutralitätsfrage wieder einmal herumeiert, fordert Altkanzler Schüssel das einzig Richtige: Einen offenen Diskurs.
Schon 2001 stellte Wolfgang Schüssel die Neutralität Österreichs infrage. „Die alten Schablonen – Lipizzaner, Mozartkugeln oder Neutralität – greifen in der komplexen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts nicht mehr“, so der Kanzler damals wörtlich am Nationalfeiertag im Ministerrat. Dass Schüssel die Neutralität in den Rang von Folklore herabstufte, sorgte in der Öffentlichkeit für gehörigen Wirbel. Sein Aufruf, über die Identität und das Selbstbild Österreichs – jenseits von Nostalgie – nachzudenken, wurde freilich nicht ernsthaft befolgt. Die angestoßene Debatte über einen Nato-Beitritt Österreichs versiegte bald wieder.
Wahrscheinlich saß vielen noch in den Knochen, dass vor dem EU-Beitritt 1995 mancherorts die Sorge geherrscht hatte, schon allein dieser könnte mit der Neutralität unvereinbar sein. Dennoch fand bald mit der Teilnahme an der Partnership for Peace (PfP) eine Annäherung an die Nato statt, aber zugleich wurde Österreichs Verteidigungsbudget an den Rand des Kaputtsparens heruntergefahren. Mehr Geld für das Bundesheer wurde erst mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine zugesagt.
Aber große Diskussionen über die Neutralität? Fehlanzeige. Selbst als Finnland und Schweden aus ihrer Neutralität unter den Nato-Schirm flüchteten, kamen hierzulande von allen Parteien Bekenntnisse zur Neutralität. In einem kürzlich aufgeflammten Disput über eine Hilfe bei der Entminung in der Ukraine wandte sich Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) strikt gegen eine Teilnahme Österreichs, Bundespräsident Van der Bellen votierte öffentlich stark dafür und meinte, humanitärer Dienst sei mit der Neutralität jederzeit vereinbar. Tanner hingegen argumentierte, man könne bei einer Entminung von Landesteilen schwerlich unterscheiden zwischen einer Hilfe für die Zivilbevölkerung und einer Unterstützung des Militärs. Der politische Diskurs endete – man kann es so sagen – typisch österreichisch: Die Regierung entschied sich für finanzielle Unterstützung der Entminungshilfe aus Europa, aber ohne personelle Beteiligung.
Österreich schlängelt sich wieder einmal durch, manche nennen es auch eine mehr oder weniger bequeme Lebenslüge. Auch die Hoffnung des derzeitigen Kanzlers Karl Nehammer (ÖVP), Österreich könne sich mit der Neutralität als „Brückenbauer“ und Vermittler zwischen Ost und West betätigen, ist mehr Wunsch als Realität, jedenfalls im aktuellen Ukraine-Konflikt.
Dass nun Altkanzler Schüssel exklusiv im Rotary Magazin zwar nicht mehr so radikal wie 2001 die Neutralität in die Luft wirft, aber dennoch „endlich eine offene Debatte“ über die Sicherheit Europas einfordert, richtet sich somit auch an seine eigene Partei. Diplomatisch, wie er ist, adressiert er diesen Appell sicherheitshalber an die gesamte EU. Gemeint ist natürlich auch die Innenpolitik. Aber so laut wie damals muss ein ehemaliger Kanzler nicht mehr sein.
Man kann darauf wetten, dass auch dieser Appell in Österreich schnell wieder in die Schublade gelegt wird. Zu problemfrei und smooth ist das Land seit 1955 mit seiner „immerwährenden“ Neutralität gefahren. Das nährte die Hoffnung, „es wird schon nix passieren“. Und wenn, dann wird man ja immer noch umdenken können.
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