Peters Lebensart
To go, to sit oder im Liegen?
Die „angemessene“ Körperhaltung während der Mahlzeiten ändert sich je nach Jahrhundert und Region
Im Stehen oder gar Gehen nahm Jesus das Abendmahl sicher nicht ein. Aber ob er modern gesittet am Speisetisch saß wie in der millionenfach repro du zier ten Ultima cena Leonardo da Vincis in Mailand oder ob er nach antik-orientalischer Sitte auf einem Speisesofa lag, ist eine Frage, die Bibelillustratoren unterschiedlich beantwortet haben. In frühen Handschriften wie dem Codex purpureus im kalabresischen Rossano (6. Jahrhundert) lehnt er jedenfalls zusammen mit den Jüngern auf einer Kline. Ganz vorn in der Ehrenposition und nicht in der Mitte wie bei der Tischvariante. Speisen im Liegen, das hatte immer etwas Vornehmes, Tiefenentspanntes. Bei den Griechen und Römern, die im Triclinium, dem Dreibettspeisezimmer, tafelten, blieb dieser Ritus begüterten Männern vorbehalten. Arme, Frauen und Sklaven mussten im Sitzen essen. Das könnte auch der Grund sein, warum angesichts der egalitären Tendenzen des frühen Christentums dieser elitäre Brauch im Westen verschwand.
In Beduinenzelten verzehren Araber bis heute gemeinsam, hingelagert auf Kissen und Teppichen, Mansaaf oder andere Hammelgerichte. Auch in unseren Breiten gibt es Ausnahmesituationen, wo wir im Liegen, genauer: im Bett essen. Bei Krankheit, verlockender im Verwöhnurlaub oder bei Verliebtheit, wo ein gemeinsames Frühstück im Federbett als Intermezzo aller Zärtlichkeiten genossen wird. Einsame Schläfer können sich zumindest in Indien oder England mit einer Tasse Early Morning Tea trösten, die stilecht im Bett geschlürft wird. Über Krümelprobleme auf dem Laken kann man hinwegsehen, aber als Dauerlösung scheint uns liegendes Essen doch etwas unbequem und der Verdauung nicht unbedingt förderlich zu sein.
Sitzend essen weist eine erstaunliche Variationsbreite auf. Unsere Stühle mit Lehne gehen auf Throne zurück, erst Ende des 18. Jahrhunderts verbreitete sich hierzulande die allgemeine Sitte, auf Stühlen statt auf Bänken oder Schemeln zu essen und dementsprechend gerade zu sitzen. Ein wichtiges Handelsgut der Donaudampfschifffahrt Richtung Schwarzes Meer waren bürgerliche Esstische und Stühle mit hohen Lehnen, die im Balkan, wo das Gros traditionell auf Hockern speiste, als Prestige-Objekte beliebt waren. Trendwende: Heute sind niedrige Plastikschemel im vietnamesischen Streetfood-Stil angesagt. Oder lässiges Balancieren auf Barhockern. Sitzend speisen kann man auch auf dem Boden – falls man gelenkig genug ist. In buddhistischen Klöstern oder auf den Tatami-Matten japanischer Kaiseki-Restaurants wird im Schneider- oder Lotussitz mit Stäbchen jongliert. Sogar DDRBürger konnten in der Tadschikischen Teestube in Ostberlin den Bodensitz ausprobieren. Essen im Hocken, nicht selten in Myanmar oder China, erfordert hingehen langjähriges Training der Fersen.
Essen im Stehen kann cool sein. Etwa im überfüllten Szenebistro, wo man gerade noch einen Platz am Zinc-Comptoir ergattert hat. Bei der Cocktail-Party, wo man bei Fingerfood die Gesprächspartner leichter wechseln kann als bei fester Tischordnung. Oder beim Zelebrieren proletarischer Riten, vor der Currywurstbude oder nachts am Würstelstand, wo sich Opernbesucher und Werktätige treffen.
Essen oder Trinken to go sollte besser für Marathonläufer reserviert sein. In romanischen Kulturen gilt es als höchst unzivilisiert, im Gehen und überhaupt auf der Straße zu essen. Da tun sich Parallelen zur ayurvedischen Weisheit auf, sich vollkommen auf die Mahlzeit zu konzentrieren, sie als Taktung des Tages und Moment der Ruhe wertzuschätzen.
Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.
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