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Peters Lebensart

Wiener Glykophilie

Peters Lebensart - Wiener Glykophilie
© Jessine Hein/Illustratoren

Die große Vielfalt an süßen Speisen ist die gegenreformatorische Antwort der österreichischen Kirche – und Köche – auf Luthers Bruch mit den Fastengesetzen.

Peter Peter01.05.2022

Vor dem Café Sacher gleich hinter der Staatsoper heißt es meist Schlange stehen. Denn jeder Wien-Tourist hat ein gewaltiges kulinarisches Pflichtprogramm zu absolvieren, und die weltberühmte Torte mit Schlagobers gehört auf jeden Fall dazu. Neugierige pilgern anschließend zum Vergleich ins Café Demel, das wenige Schritte von der Hofburg entfernt mit Schaufensterkreationen aufwartet, die den angesagtesten Confiserien von Paris Konkurrenz machen. Schließlich haben beide Etablissements jahrzehntelang um das Prädikat „Original Sachertorte“ prozessiert.

K. u. k. Hofzuckerbäckereien bilden ein genießerisches Paralleluniversum zum intellektuell dominierten Kaffeehaus mit seiner traditionell spärlichen Kuchenauswahl. Vom Caterer Gerstner und dem Hofratstreff Sluka bis zum Heiner mit seiner Kardinalschnitte: Wien lockt mit Mehlspeisen von der mehlfreien Esterházytorte bis zum Topfenstrudel, von der Mannerschnitte bis zur üppigen Malakofftorte. Zuckerln und Bonbons aus Wien haben einst nicht nur das sprichwörtliche, aus der Mode gekommene „süße Wiener Mädel“ mit Ballgeschenken verführt, sondern die halbe Welt versorgt.

Woher kommt diese süße Fixierung? Der altmodische Begriff Zuckerbäcker weist in eine feudale Epoche, als importierter Rohrzucker enorm teuer war. Die barocke Zuckerbäckerstiege in der Hofburg erinnert daran, dass Naschwerk eine Habsburger Leidenschaft war, der noch die gertenschlanke Gattin Kaiser Franz Josephs frönte. Sisi verschlang Unmengen von kandierten Veilchen und Speiseeis.

Historiker machen in der „Glykophilie“ der Donaustadt ein gegenreformatorisches Erbe aus. Während Luther die Fastengesetze für unbiblisch erklärt hatte, pochte die katholische Kirche darauf. Mit der Folge, dass sich Österreichs Köchinnen und Köche etwas einfallen lassen mussten, um schmackhaft fleischfrei aufzutischen. Die abwechslungsreiche Mehlspeisenküche der Knödel und Krapfen entstand, die mit Latwergen, eingekochten Früchten und Trockenbirnen zuckrige Aromen zauberte.

Der Triumph des Süßen inkarniert sich im Auftritt der böhmischen Köchin. Technische Neuerungen wie Eisenbahn und mährische Rübenzuckerfabriken führten dazu, dass ab der Mitte des 19. Jahrhunderts tschechische Dienstmädchen nach Wien strömten. Und ihre Speisen reichlich mit dem erschwinglich gewordenen Süßstoff würzten. Ein legendärer Kniff bestand darin, in die Frucht im Inneren des Zwetschkenknödels ein Stückchen Würfelzucker, getränkt mit Obstbrand, zu stecken. Bäckereien und Beisln backten und boten nun Böhmisches an: Mohndalken, süße SkubankiNockerln, mit Puderzucker bestreute kreisrunde Liwanzen, Topfengolatschen. Manches davon bleibt fest in der Wiener Küche verankert, manches ist klar auf dem Rückzug. Denn so süß wie damals, als „Böhmen noch bei Österreich war“, schätzen es nur noch wenige „Mehlspeistiger“.

Trotzdem bleibt erstaunlich, welche Fülle an nostalgischen Süßwarengeschäften sich in Wien gehalten hat. In Schatzkästchen wie der Zuckerltante kann der Kunde bunt eingewickelte Bonbons und Pralinen einzeln erstehen. Dass gerade das süße Wien Integrationskraft hat, lässt sich im Arbeiterbezirk Favoriten beobachten. Hier erfand der Eiskönig Kurt Tichy 1967 seinen Eismarillenknödel. Längst zählen islamische Frauen und Paare zu den Stammgästen der Eisdiele mit dem Rialtocharme der 1960er Jahre. Auch Kaiserin Sisi könnte heute ihren kulinarischen Horizont erweitern. In der Schmalzhofgasse in Mariahilf kandiert Michael Diewald selbst gepflückte Zitronenblüten aus Schönbrunn – blühendes Konfekt!

Peter Peter

Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.

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