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von Martin Hoffmeister |
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Werke, die zum Innehalten und zur mentalen Einkehr einladen

Zuversicht, Aufbruch und übermütige Volte mögen nicht als charakteristischste Insignien gemeiner November-Verfasstheit gelten, dennoch korrespondiert selbst atmosphärische Trübung mit lichtem Moment. Bachs h-Moll-Messe repräsentiert wie kaum ein zweites Werk der Musikgeschichte die Ideen von Universalität und kanonischer Heilsbotschaft. In seiner 50. Saison als Direktor des Hamburg Ballett ließ sich Tanzlegende und Choreograf John Neumeier von Bachs Musik zu „Dona Nobis Pacem“ und damit zu einer seiner letzten epochalen Arbeiten inspirieren. Es sollte ein historisches Dokument werden und die Summe seiner choreografischen Potenziale spiegeln, weshalb der Meister erstmals zustimmte, eines seiner Ballette in der Woche der Weltpremiere (2022) filmen zu lassen. Tatsächlich stellt das Werk nicht nur einen der stilbildenden Höhepunkte der jüngeren europäischen Ballettgeschichte dar, sondern liest sich als profunder Kommentar zur Weltlage. Auf der Bühne versammelt sind von Krieg und anderen existenziellen Notlagen versehrte Figuren: Soldaten, gezeichnet von Tod, Verzweiflung, Aussichtslosigkeit und dunkler Erinnerung. Aufgehellt wird das Setting immer wieder von „helfenden Händen“, etwa von weiß kostümierten, heiter gestimmten Engeln. Den vielgesichtigen Charakteren verleiht Neumeier mit überbordend reicher Bewegungs- und Ausdrucksvarianz bemerkenswerte Authentizitätswerte.

Die Aufarbeitung von Geschichte und Dimension nationalsozialistischer Terrorherrschaft in Einzelaspekten wird noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Über vorliegende Sachbuch-Tableaus hinaus begleiten das Thema vielperspektivisch und authentisch zahllose Einlassungen von Zeitzeugen. Zu den bewegendsten zählen Hannah Pick-Goslars als Buch und Hörbuch vorliegende Erinnerungen, die entlang der Freundschaftsgeschichte mit Anne Frank Alltag, Leid, Internierung und Überleben nach dem Holocaust in den Blick nehmen: Die Flucht der Familie 1933 aus Berlin, die Freundschaft mit Anne Frank in Amsterdam, deren Trennung 1942 und das unvermutete Wiedersehen im Konzentrationslager Bergen-Belsen 1945. Pick-Goslar schildert präzise und zugewandt und zeichnet ein intimes Bild des solitären Bundes. Bis zu ihrem Tod 2022 widmete sich die Autorin dem Gedenken an die Freundin.

Nichts ist, wie es scheint. Nicht einmal die Realität – oder sogenannte Wahrheiten. Weder Normen noch Gewissheiten, Worte oder Sätze. 14 Erzählungen versammelt der neue Band von Frank Witzel. Ob darin konkrete Inhalte oder nur Versatzstücke des Alltagswahnsinns verhandelt werden, bleibt schwer auszumachen, denn Witzels enigmatischer literarischer Kosmos zielt nicht auf Geschichten, sondern auf Dekonstruktion von Zusammenhängen, Klarheiten und kanonischen Wahrnehmungsmustern. Er ätzt gegen die „Hölle der Beliebigkeit“ und öde Mainstream-Diskurse, kratzt an den Niederungen des Zeitgeistes, ironisiert aufgeblasene Banalität und kontert die allgemeine Sprach- und Sprechnivellierung mit aberwitziger kaskadischer Rhetorik. Selten zuvor wurde das neurotische Ganze in seinen Verästelungen und Abgründen unbedingter, schärfer, aber auch kurzweiliger ins Licht gerückt.

Die Auseinandersetzung mit Tod und Sterben begleitete den Komponisten Johann Sebastian Bach zeit seines Lebens. Tiefe Gläubigkeit und Schaffensverdichtung halfen ihm, Schicksalsschlägen aufrecht zu begegnen. Wie sehr Bachs (geistliches) Werk durchdrungen war von Tod und Ewigkeitsgedanken, reflektiert die aktuelle CD des Ensemble il capriccio mit Countertenor Franz Vitzthum „Die Kunst des Sterbens“. Dem Sujet verpflichteten Rezitativen und Arien stehen einzelne Abschnitte aus „Die Kunst der Fuge“ gegenüber. Entlang sinnfälliger Dramaturgie und exemplarischer Gesangs- und Spielkultur generiert das Album suggestiv-abgeschattete klangliche Gegen- und Zwischenwelten, die zum Innehalten und zur mentalen Einkehr einladen.


  1. Johann Sebastian Bach: Dona Nobis Pacem, Messe in h-Moll, A Ballet by John Neumeier, Hamburg Ballett, C-Major 764708, DVD
  2. Hannah Pick-Goslar: Meine Freundin Anne Frank, gelesen von Frauke Poolman, Der Hörverlag, 24,95 Euro, Hörbuch
  3. Frank Witzel: Die fernen Orte des Versagens, Matthes & Seitz, 280 S., 24 Euro, Buch
  4. Ensemble il capriccio, Franz Vitzthum: Die Kunst des Sterbens – Ars moriendi, Genuin Classics, GEN 22800, CD
Martin Hoffmeister

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