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Eine Reise entlang des Orange Rivers

Kranke Mutter des Lebens

Über fast 2000 Kilometer schlängelt sich der Fluss von Ost nach West – von den Bergen Lesothos bis zur weiten
Kalahari-Wüste.

Thomas Kruchem15.06.2010

Einst freite der Regen eine junge Frau, die in ihrer Hütte lag“, heißt es in einer Erzählung südafrikanischer Buschleute. „Der Regen witterte sie; er trabte heran, sein Atem füllte den Ort mit Nebel. Da presste die Frau ‚Buchu‘, duftende Blätter eines Busches, auf seine Stirn. Sie legte ihren Fellmantel an, bestieg den Regen, und der Regen nahm sie mit sich hinweg.“

Der Regen, das Wasser, als kraftstrotzender Bulle und Liebhaber, kehrt immer wieder in Erzählungen und Felsmalereien der Buschleute, die seit dem Morgengrauen menschlicher Geschichte Berge, Savannen und Wüsten des südlichen Afrikas durchstreiften – das eine Million Quadratkilometer umfassende Einzugsgebiet des Orange River. Über fast 2000 Kilometer schlängelt sich der Fluss von Ost nach West – von den Bergen Lesothos, wo ihn 2000 Millimeter Regen im Jahr speisen, bis zur Kalahari-Wüste am Atlantik, wo es gerade noch 50 Millimeter jährlich regnet.

Wasser war immer knapp im südlichen Afrika. Aber heute, da der Mensch hier immer mehr Wasser verbraucht und der Klimawandel Unwetter im Osten wie Dürren im Westen verschärft, wird der Mangel dramatisch. Mehr denn je sind die Menschen in Lesotho, Südafrika, Namibia und auch Botswana abhängig vom Wasser des Orange River mit seinen Nebenflüssen Caledon und Vaal.

Lange lebten im Einzugsgebiet dieser Flüsse – neben Antilopen, Löwen und Hyänen – nur kleine Gruppen Buschleute. Später kamen viehzüchtende Koi hinzu, noch später Bantus aus Westafrika, vor 500 Jahren die ersten Portugiesen. Holländische Siedler schickten um 1660 Kundschafter zu jenem Fluss, an dessen Oberlauf die Eingeborenen das Königreich Monomatapa (Groß-Simbabwe) vermuteten – mit seinen sagenhaften Reichtümern an Gold, Elfenbein und Sklaven.

Gemüse für Europa

Die Kundschafter, die den Fluss nach dem Hause derer von Oranje benannten, fanden kein Gold, dafür aber Diamanten, die später die wirtschaftliche Basis der Burenrepubliken Transvaal und Oranje Vrystaat bildeten; und sie erzählten von Fluten und Dürren, bei denen Tausende Buschleute starben. Mit brachialer Gewalt muss der Orange damals, gespeist durch Starkregen in den Bergen Lesothos, weite Regionen an seinem Unterlauf überflutet haben; in trockenen Wintern hingegen versiegte er oft ganz. Der Fluss ‚pulsierte‘; sein Lauf war noch nicht, wie heute, durch zwei Dutzend Staudämme reguliert.

Der Ursprung des Orange Rivers liegt in den Bergsümpfen Lesothos, die Regenwasser aufsaugen und es aus Quellen ins Unterland abgeben. Lesotho – halb so groß wie Bayern, zwei Millionen Einwohner – hat nur zwei Ressourcen: Männer, die in den Bergwerken Südafrikas schuften, und Wasser. Es regnet hier fünfmal so viel wie im südafrikanischen Umland, wo insbesondere das Industriegebiet um Johannesburg nach Wasser lechzt. Deshalb verkauft der Kleinstaat Wasser an Südafrika. Der Orange River und einige Nebenflüsse werden hinter bis zu 180 Meter hohen Mauern gestaut. Anschließend fließt das Wasser durch Tunnel nach Johannesburg. Das „Lesotho Highlands Water Project“ begann in den 80er Jahren und wird weiter ausgebaut. Für sein Wasser zahlt Südafrika dem kleinen Bergkönigreich derzeit 20 Millionen Euro jährlich.

Beraubt seines Wassers, verlässt der Orange River Lesotho als Rinnsal. Erst 250 Kilometer weiter westlich füllt ihn sein die Nordgrenze Lesothos markierender Nebenfluss Caledon wieder auf. Am südafrikanischen Ufer des Caledon liegt Afrikas größtes Anbaugebiet für Getreide und Gemüse, das jedoch intensiv bewässert werden muss. Die Landwirtschaft verbraucht, mit Abstand, das meiste Wasser im Einzugsgebiet des Orange Rivers: rund 60 Prozent.

Auf einem der Bauernhöfe am Caledon, dem im Schatten uralter Bäume gelegenen „Alpha Estate“, leitet der studierte Landwirt Bruce Hamilton einen Betrieb, der Weizen sowie Kürbisfrüchte und Zucchini für den Export produziert. Um sein Gemüse zu bewässern, braucht Hamilton sommers 70 Kubikmeter Wasser pro Stunde aus dem Caledon – der ihm zunehmend Sorge bereitet. „Eigentlich“, sagt der junge Farmmanager, „speichern die Bergsümpfe Lesothos wie Schwämme Regenwasser und geben es allmählich an den Fluss ab. Neuerdings jedoch lässt intensive Kleinbauern-Landwirtschaft die Sümpfe rapide erodieren. Nach starkem Regen ist der Caledon gelb-braun gesättigt von Sedimenten, nach wenigen Monaten Trockenheit nur noch ein Rinnsal.“ Anders als seine armen Kollegen an den Steilhängen Lesothos beugt Bruce Hamilton der Erosion vor. Er schützt seine an eher sanften Hügeln gelegenen Felder durch „Konturpflügen.“ „In fast waagerechten Rinnen läuft das Regenwasser langsam auf die Mitte des Feldes zu. Und laufen die Rinnen schließlich über, versickert das Wasser auf einer unten an das Feld anschließenden Grasfläche.“ Der Farmer weiß, dass massiver Dünger- und Pestizid-Einsatz vieler seiner Kollegen die Flüsse Südafrikas stark belasten. „Alpha Estate“ indes produziert Gemüse für den sensiblen europäischen Markt – mit modernsten Methoden: So sind die Felder in Flächen von 100 m² gerastert, denen ein Minibagger computergesteuert Bodenproben entnimmt, diese auf Tongehalt und Nährstoffe wie Kalium, Phosphat oder Magnesium untersucht und die Informationen schließlich GPS-gesteuert auf eine Landkarte überträgt. Automatisch wird dann an der richtigen Stelle die richtige Menge des passenden Düngers ausgebracht. Ganz anders, aber ähnlich penibel geht Hamilton beim Einsatz von Pestiziden vor: Auf einigen seiner Gemüsefelder jäten Arbeiterinnen das Unkraut von Hand.

Gold- und uranbergbau

Dort, wo in der Provinz Free State der Caledon in den Orange mündet, machten sich die Südafrikaner in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts den Fluss endgültig untertan. Mit dem Bau des Gariep-Damms und, hundert Kilometer flussabwärts, des Van-der-Kloof-Damms domestizierten sie den bis dahin pulsierenden Orange River und schufen so vielerorts erst die Voraussetzung, Landwirtschaft zu betreiben. Schiffbar ist der Fluss wegen zahlreicher Stromschnellen bis heute nicht; aber im Umfeld der Stauseen sind, neben Plantagen, Nationalparks mit Zehntausenden Wildtieren entstanden.

Der Orange River hat indes einen schwer kranken Bruder – den 1200 Kilometer langen Vaal. In den Vaal, aus dem zahllose Bauern ihre Felder bewässern, entlassen Bergbau und Industrie der Provinz Gauteng ihre Abwässer; Millionen Arme, die sonst keinen Ort gefunden haben, siedeln an seinen Ufern. „Orange Farm“, 50 Kilometer Vaal-abwärts von Johannesburg, ist eine jener öden Siedlungen aus Beton- und Wellblechverschlägen, deren Bewohner schmutziges Wasser trinken. „Tag für Tag stehe ich Schlange am einzigen öffentlichen Wasserhahn hier“, sagt Millie Senti, eine alte Frau mit blutunterlaufenen Augen unter dem mürben Kopftuch. „Und das Wasser riecht nach Fisch und Fäkalien. So viele Leute hier werden krank.“

„Die Wasserversorgung in unseren Armensiedlungen ist deshalb besonders schlecht, weil die meisten Bewohner sich weigern, dafür zu zahlen“, sagt Peter Ashton, Wasserexperte am staatlichen Forschungsinstitut CSIR in Pretoria. Hinzu komme Schlimmeres, sagt Ashton. „Die Gesundheit von Millionen Südafrikanern ist bedroht von Schwermetallen, Chemikalien und anderen Giften in Grundwasser, Flüssen und Stauseen.“ Besonders betroffen: die Industrieprovinz Gauteng und damit das Einzugsgebiet des Vaal River. „Durch hundert Jahre Gold- und Uranbergbau dort wurde viel pyrithaltiges Gestein freigelegt“, erklärt Ashton. Aus diesem Eisensulfit löse sich beim Kontakt mit Luft Schwefelsäure; Schwermetalle wie Blei, Cadmium und Uran würden freigesetzt. Doch damit nicht genug. Die Industrie Gautengs, die zehn Prozent des afrikanischen Sozialprodukts erwirtschaftet, reinigt ihre Abwässer völlig unzureichend; zwei Drittel der kommunalen Kläranlagen sind überlastet; deshalb schaffen dort in Flüsse und Stauseen geleitete Phosphate ein ideales Klima für die Blüte hochgiftiger Blaualgen. Und so trinken zwar die Bewohner Johannesburgs sauberes Wasser aus Lesotho; das Trinkwasser zahlloser Armensiedlungen jedoch ist zunehmend mit dem Algengift Mikrozystin belastet. „Dieses Gift“, erklärt Peter Ashton, „verändert Gen- und Zellstrukturen; es erzeugt in Versuchstieren regelmäßig Leberkrebs und bedroht massiv auch die menschliche Gesundheit.“ Trotzdem tun die Behörden beinahe nichts – kritisiert Ashton‘s Kollege Anthony Turton. In den letzten zehn Jahren sind eine Million hoch qualifizierte Fachkräfte ausgewandert, 300 pro Tag. Es gibt nicht einmal mehr genug Ingenieure, Handwerker und Chemiker im Lande, um bestehende Kläranlagen zu erhalten. Und Hightech-Lösungen für seine Wasserprobleme kann Südafrika nicht bezahlen – ein Land, das ja auch noch eine AIDS-Katastrophe, Massenarbeitslosigkeit, Energiekrisen und die Fußball-WM zu bewältigen hat.

Der Orange River fließt, nach der Einmündung des Vaal als algig grünes Rinnsal, träge dahin. Damit der Orange verschont bleibt vom Schicksal seines Nebenflusses, haben die Anrainerstaaten Südafrika, Namibia, Lesotho und Botswana vor einigen Jahren ORASECOM gegründet, eine Kommission, in der sie gemeinsam das Management des Orange River planen: den Aufbau einer gemeinsamen Datenbasis; Aufteilung, effizientere Nutzung und Reinhaltung des Wassers. Bergbau, Industrie, Farmer, Kommunen sollen einbezogen und in die Pflicht genommen werden. In ORASECOM planen vier Länder gemeinsam Überlebensstrategien, intensiv beraten von der deutschen „Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit“ (GTZ).

Und sie werden wohl auch den Traubenanbau bei Upington unter die Lupe nehmen. Dort weitet sich der Fluss zu einem lang gestreckten See, an dem auf einem wenige Kilometer breiten Uferstreifen zahllose Rebenfelder zu sehen sind. Alljährlich im Februar werden Tausende Tonnen mit enormem Wasser- und Düngereinsatz erzeugte Tafeltrauben aus der Wüste zum europäischen Konsumenten geflogen.

Verschwundene Tradition

60 Kilometer flussabwärts von Upington hat sich Sicelo Mtikitiki, ein junger Xhosa aus dem Osten Südafrikas, eine Hütte aus Strohballen gebaut. Sicelo malt gern, schreibt und liebt die Einsamkeit, fährt aber doch mit dem Besucher in halsbrecherischer Fahrt eine Geröllstraße hinauf zum Dorf Riemvaasmak. Die Bewohner von Riemvaasmak zählen sich zu den Nama, einem Volk der viehzüchtenden Koi-Nomaden. Tatsächlich sind die Nama längst Angehörige aller Rassen; einige wirken wie Weiße. Dies Durcheinander rühre daher, dass niemand mehr nach der Tradition lebe, sagt „Ouma“ Katrina Adams – eine verhutzelte, uralte Frau mit wachem Blick unter dem leuchtend blauen Kopftuch. Viele Mädchen, sagt Katrina, wissen nicht einmal mehr, wer der Vater ihres Kindes ist. Das sei früher anders gewesen. „Damals rieben wir den Körper eines Mädchens, wenn es zu menstruieren begann, mit Staub eines zerstoßenen weißen Steins ein; dann zog es sich für 14 Tage zum Meditieren in eine Hütte zurück, bevor wir schließlich ein großes Fest feierten. Und der Mann, der das Mädchen heiraten sollte, tanzte es aus der Schar der anderen Mädchen heraus.“

„Ouma“ Katrina weiß auch noch, wie die Nama Musik machten in „die out deit“, den alten Tagen. Heute spielt keiner mehr die alte Musik, kaum einer spricht noch die Sprache der Nama. Daran seien die Weißen schuld, sagt der alte Niklas Adams, der kerzengerade auf seinem Stuhl sitzt. Die Weißen hätten nomadisierende Nama erst in Dörfer gezwungen und sie dann wieder vertrieben.

„Der Orange River ist die Mutter allen Lebens hier“, sagt spätabends, in seiner Hütte aus Strohballen, Sicelo und erzählt vom Fluss, zu dessen beruhigendem Rauschen er Nacht für Nacht einschläft.

Thomas Kruchem
Thomas Kruchem bereist als freier Hörfunkjournalist regelmäßig Entwicklungsländer. Der Autor mehrerer entwicklungspolitischer Fachbücher hat unter anderem vier Mal den "Medienpreis Entwicklungspolitik“ des BMZ erhalten. Zuletzt erschien sein Werk "Am Tropf von Big Food" (Transcript Verlag, 2019).