https://rotary.de/wirtschaft/vom-regen-in-die-traufe-a-10929.html
Titelthema

Vom Regen in die Traufe

Titelthema - Vom Regen in die Traufe
Angereichertes Maispulver erlebt gerade einen Boom © Thomas Kruchem

Statt Hunger und Unterernährung herrschen in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern heute Übergewicht und Diabetes. Die Ursache: Junkfood

Thomas Kruchem01.07.2017

Kliptown, ein Armenviertel der Township Soweto in Südafrika. Das Zuhause der Matsidisus be­steht aus rostigen Wellblechfetzen. Wasser kommt aus einem öffentlichen Hahn. Den Eimer im Kunststoffklo draußen leert die Stadtverwaltung einmal pro Woche. Überall liegt Müll.

Nachdenklich blickt Anna Matsidisu auf den blau-gelben Nahverkehrszug, der die öde Hochlandsteppe durchquert. Eisi­ger Winterwind fegt über die Steppe; die vielleicht 40-jährige, sehr korpulente Frau trägt einen schwarzen Umhang über dem grünen T-Shirt und eine Wollmütze. Gemeinsam mit Jacob, ihrem schmächtig und schüchtern wirkenden Mann, füllt sie Kunststoffsäcke mit zerschlagenen Plastikflaschen.

„Wir haben die Flaschen nach ihrem Wert sortiert“, sagt Anna, „in den einen Sack die Cola-Flaschen zu zwei Rand das Kilo, in den anderen die braunen Saftflaschen zu 50 Cent.“ Der Erlös in diesem Monat: 2000 Rand, 140 Euro. „Das muss reichen für meinen Mann und mich; für meine beiden Töchter, die noch zur Schule gehen, und für meinen Sohn, der nur rumsitzt, weil er keine Arbeit findet. Maismehl, Reis und Zucker kaufe ich von dem Geld, ab und zu Zwiebeln, etwas Dosenfisch, Seife und Paraffin zum Kochen.“

Südafrika, 53 Millionen Einwohner – das wirtschaftlich, mit Abstand, stärkste Land Afrikas. Ein Land jedoch mit viel Armut und Mangelernährung: 26,5 Prozent der Kinder sind stunted, chronisch mangel­er­nährt. Sie sind in ihrem Wachstum zurück­geblieben und werden zeitlebens unter körperlichen und geistigen Einschränkun­gen leiden. Wichtige Ursachen: Südafrika hat die wohl höchste Einkommensungleich­heit weltweit: 40 Prozent der Südafrikaner sind arbeitslos; 15 Millionen leben von Sozialhilfe. Und weil die Apartheid ihnen fast alles Land raubte, produzieren nur wenige schwarze Südafrikaner Nahrungsmittel. Hinzu kommt: Die Apartheid und die HIV-Pandemie haben das Lebens­modell der traditionellen Familie untergraben: Viele Kinder wachsen bei einer Groß­mutter auf; nur acht Prozent der Babys werden in den ersten sechs Monaten gestillt.

„Viele arme Südafrikaner essen fast nur Junkfood“, sagt Julie Smith. Sie leitet in der Stadt Pietermaritzburg eine Orga­nisa­tion, die die Preise von Nahrungsmitteln verfolgt. Der durchschnittliche Monatslohn liege bei 3000 Rand, sagt Julie, bei 210 Euro. Ein Zwei-Liter-Karton Milch kos­te 26 Rand. „Die Menschen in den Town­ships kaufen immer weniger Milch, Fleisch und Gemüse; stattdessen stärkehaltige Nah­rungs­mittel. Denn die füllen den Bauch.

Überlebensstrategie

Maisbrei, nährstoffarme Kekse, Marga­rine und ölhaltige Chips sind für arme Süd­afrikaner die Mittel der Wahl, um zu überleben. Und auch deren Preise steigen weit schneller als die Einkommen. Der wichtigste Grund: Lebensmittelproduktion und -handel werden von wenigen Unternehmen kontrolliert.

„Premier, Pioneer Foods und Tiger Brands haben einen Marktanteil von 50 bis 60 Prozent beim Grundnahrungsmittel Brot“, erklärt David Sanders, Professor für öffentliche Gesundheit an der Universität Kapstadt. Und: 60 Prozent des Lebens­mittelhandels kontrollieren vier Supermarktketten – Pickn’Pay, Shoprite, Woolworth und Spar. „Diese Ketten bestimmen das Angebot. Und das sieht im Armenviertel Kliptown ganz anders aus als im reichen Sandton.“

Während der hell beleuchtete Shoprite in Sandton in langen Kühlregalen Frischfleisch, Fisch, Obst, Gemüse und Milchprodukte anbietet, stehen im trüben Licht des Shoprite Kliptown Paletten voller Mais- und Weizensäcke, voller Zwei-Kilo-Würfel Margarine, Back- und Kochfett. Daneben lange Reihen von Zwei-Liter-Flaschen Cola und ein schmales Angebot ungekühlt halt­baren Joghurts.

Eine Alternative zum Einkauf haben Township-Bewohner wie die Matsidisus nur im kioskähnlichen Tuck Shop um die Ecke. Inhaberin Anna Ngcobo verkauft Ziga­retten, Bonbons und Kekse auch einzeln. Im schäbigen Regal des Shops stehen kleinste Tütchen: selbst abgepacktes Fett, Zucker und Mehl. Der Preis ist nominal niedrig, pro Gewichtseinheit jedoch sehr hoch. Die Ärmsten zahlen mehr; und oft soll es sich bei Tuck-shop-Ware um ab­gelaufene Supermarkt-Bestände handeln. Aber wen stört’s, solange er bei Anna ­Ng­co­bo Kredit hat.

Sonntags gingen viele arme Südafrikaner ins Fastfood-Restaurant, zu KFC oder zum Hungry Lion, berichtet im ländlichen KwaZulu-Natal S’bongiseni Vilakazi, Leiter einer lokalen Hilfsorganisation. „Es gibt Menschen ein gewisses Statusgefühl, wenn Sie ihrer Familie ein paar Mal im Monat eine KFC-Box mitbringen“, sagt Vilakazi. „Und sie glauben, ihre Kinder zu ver­wöhnen, wenn sie sie in ein Fastfood-­Restaurant einladen. Dies auch deshalb, weil sol­­che Restaurants und die Getränke­hersteller ihre Produkte als gesund anpreisen.“

Verführung durch Werbung 

Von verführten Opfern eines aufgezwungenen Ernährungswandels spricht der Kap­­städter Gesundheitsexperte Prof. David Sanders. Die großen Nahrungsmittelunter­nehmen, Supermarkt- und Fastfood-Ketten ließen den Menschen keine Wahl, als Junkfood zu konsumieren. „Das ist die wichtigste Ursache für das Doppelproblem aus chronischer Mangelernährung und rapide wachsendem Übergewicht in unse­rer armen Bevölkerung.“ Über 40 Prozent der Frauen Südafrikas seien fettleibig. Für manche sei Fettleibigkeit sogar ein Zeichen von Wohlstand. „Und wenn jemand, der dick ist, abnimmt, fragen die Leute: "Ist der vielleicht HIV-positiv?‘“

Thomas Kruchem
Thomas Kruchem bereist als freier Hörfunkjournalist regelmäßig Entwicklungsländer. Der Autor mehrerer entwicklungspolitischer Fachbücher hat unter anderem vier Mal den "Medienpreis Entwicklungspolitik“ des BMZ erhalten. Zuletzt erschien sein Werk "Am Tropf von Big Food" (Transcript Verlag, 2019).