Bangladesh
Versteckter Hunger
In Bangladesch ist Mangelernährung ein weit verbreitetes Phänomen. Die Folge ist häufig ein Zurückbleiben der kindlichen Entwicklung bis hin zur Behinderung. Wie Millionen Kindern durch einseitige Ernährung die Zukunft geraubt wird, hat sich unser Autor vor Ort angesehen.
In der Grundschule des Dorfes Badatoli im Süden von Bangladesch deutet Lehrerin Sumea Nasrin auf vier still in der Bank sitzende Kinder – Kinder mit leerem Blick, viel zu klein für ihr Alter. „Ich mache mir große Sorgen um sie. Ständig sind sie müde. Sie können sich nicht konzentrieren und verstehen fast nichts von dem, was ich ihnen erkläre. Bei mindestens 20 unserer 200 Kinder sieht es ähnlich aus.“
Die Sorgenkinder der Grundschule in Badatoli seien offensichtlich „stunted“ – erklärt im deutschen Gießen der Kinderarzt und Ernährungsexperte Prof. Michael Krawinkel. „Als ‚stunting‘ beschreiben wir ein Zurückbleiben der kindlichen Entwicklung, sichtbar vor allem an zu geringem Längenwachstum. ‚Stunting‘ ist eine Folge von Mangelernährung: Den Kindern fehlen wichtige Nährstoffe wie Proteine, Mineralien und Vitamine – weil sie fast ausschließlich Reis essen, aber zu wenig Obst, Gemüse und tierische Lebensmittel.“
„Stunting“ ist ein Massenphänomen in Entwicklungsländern: Über 2,5 Milliarden Menschen weltweit essen fast ausschließlich polierten Reis, Mais oder Maniok – die viel Stärke enthalten, aber kaum Proteine und lebenswichtige Spurenelemente wie Vitamin A, B-Vitamine, Eisen, Zink oder Folsäure. Dieser „versteckte Hunger“ hat dramatische Folgen: Weltweit 170 Millionen Kinder unter fünf Jahren, 41 Prozent der Kinder in Bangladesch, sind de facto behindert. Sie sind höchst anfällig für Infektionskrankheiten, bleiben zeitlebens kleiner als andere Menschen; fangen später an zu laufen und zu sprechen. „Stunting“ beeinträchtigt stark auch die Gehirnentwicklung betroffener Kinder“, erklärt in Dhaka Prof. Tahmeed Ahmed, Leiter des renommierten „Internationalen Zentrums für Durchfallforschung“ (ICDDR, B). „Die Kinder versagen in der Schule und später im Leben, weil es ihnen an kognitiven Fähigkeiten fehlt – mit dramatischen Auswirkungen auf die Volkswirtschaft unseres Landes.“
Unzureichende Qualität
Eine Ursache der Mangelernährung in Bangladesch springt dem Besucher sofort ins Auge. Auf fast allen bebaubaren Flächen steht nichts als Reis. Dafür gibt es gute Gründe: Bis vor 30 Jahren erlebte Bangladesch immer wieder Hungersnöte; heute kann das kleine Land mit einer Fläche von gerade zweimal Bayern seine 160 Millionen Menschen selbst mit Reis versorgen. „Reissicherheit jedoch ist keine Ernährungssicherheit“, sagt Sukanta Sen, Leiter der lokalen Hilfsorganisation BARCIK. „Den Preis zahlen wir mit der unzureichenden Qualität unserer Ernährung.“
Milch, zum Beispiel, ist extrem teuer in Bangladesch. Denn immer weniger Bauern halten Kühe, weil es ihnen an Futter fehlt. Freie Weideflächen gibt es kaum mehr. Und weil der heute angebaute Hochertragsreis kürzere Halme hat als traditionelle Reissorten, haben die Bauern auch weniger Stroh. Auch Hühnerfleisch ist knapp: Seit die Bauern zur Zeit der Vogelgrippe vor einigen Jahren ihre Hühner töten mussten, scheuen sie das Federvieh wie der Teufel das Weihwasser.
Und: immer weniger Fische tummeln sich in Bangladeschs Flüssen, Teichen und Reisfeldern – weil die Flüsse zusehends versanden, weil, zum Schutz des Reisanbaus vor Fluten, Tausende Dämme und Deiche das Land durchziehen; weil zahlreiche zuvor öffentliche Teiche privatisiert wurden. Dort betreiben jetzt kommerzielle Unternehmen Aquakultur für den Konsum der Wohlhabenden und für den Export.
Die Privatisierung, klagt Sukanta Sen, habe auch öffentliche Landflächen erfasst, wo sich früher Millionen Arme mit wild wachsendem Obst und Gemüse versorgten. „Heute sind fast alle Brachflächen verpachtet.“
Bittere Armut großer Teile der Bevölkerung ist eine weitere Ursache der Mangelernährung in Bangladesch – Armut insbesondere auch alleinstehender Mütter wie Rumela Katun, die außerhalb der Stadt Mymensingh im Straßenbau arbeitet – für 2000 Taka, 20 Euro, im Monat. „Ich habe drei Söhne von zehn, acht und fünf Jahren“, erzählt die ausgezehrt wirkende Frau. „Mein Mann ist vor zwei Jahren gestorben. Das Geld, das ich verdiene, reicht gerade so für Reis, Chili und ein paar Kartoffeln. Manchmal muss ich meine Kinder mit leerem Magen zur Schule schicken.“ Frauen wie Rumela Katun können keine Vorräte anlegen; sie müssen kleinste Portionen Reis und Dal, Linsen, teuer auf dem Markt kaufen. Und viele erliegen der Versuchung, billiges, aber gefährliches Kesari Dal zu essen.
Im Süden des 16-Millionen-Molochs Dhaka taucht der Besucher ein in ein Labyrinth aus schmalen, von Fahrradrikschas und Ochsenkarren befahrenen Wegen. Hier unterhält die lokale Hilfsorganisation BRAC ein Zentrum, das schwangere Frauen im letzten Trimester betreut. „Im Mutterleib wird das Leben eines Menschen in entscheidendem Maße programmiert“, sagt die junge Ärztin Nauruj Jahan. „Mangelernährung der Mutter überträgt sich auf das Kind und prägt dessen ganzes Leben. Das Kind hat ein erhöhtes Risiko, behindert, etwa mit Zerebralparese, zur Welt zu kommen. Und es hat ein erhöhtes Risiko, als Erwachsener fettleibig zu werden und chronische Erkrankungen wie Diabetes, Herz- und Nierenleiden zu bekommen.“
„Ich arbeite bis heute in einer Textilfabrik“, erzählt die hochschwangere und kaum 1,45 Meter große Afsana
Begum, „von morgens um acht bis abends um acht. Zum Essen komme ich nur zwischendurch.“ „Afsana hat zu wenig zugenommen und wirkt anämisch“, sagt Nauruj Jahan. Fast alle Frauen, die das Zentrum besuchen, haben mit kaum 16 Jahren geheiratet und wurden schwanger, bevor sie ausgewachsen waren. Fast alle essen zu Hause nur, was die Männer übrig lassen; sie essen bei Schwangerschaftsübelkeit sogar weniger als sonst; fast alle arbeiten bis kurz vor der Geburt. Eine regelmäßige Folge: schwere Anämie, die das Kind schädigt und das Leben der Mutter gefährdet.
Aufklärung
Die Hebammen des Zentrums können die Auswirkungen nur mildern: Sie beraten und betreuen die Frauen; sie geben ihnen Tabletten mit Eisen und Folsäure sowie nach der Geburt eine Vitamin-A-Kapsel. Die versorgt das Baby mit dem lebenswichtigen Vitamin – wenn es denn, wie empfohlen, sechs Monate lang von der Mutter gestillt wird. Danach soll die Mutter protein-, vitamin- und mineralienreichen Brei zufüttern. „Die meisten Mütter jedoch stillen gar nicht oder zu wenig; und sie wissen frappierend wenig über richtige Kinderernährung“, klagt Erica Roy Khetran, Mitarbeiterin der amerikanischen Hilfsorganisation „Helen Keller International“. Dies gelte auch für sozial bessergestellte Frauen. „Vom ,stunting‘ sind zu einem Viertel auch die Kinder der 20 Prozent wohlhabendsten Bangladeschis betroffen.“
Millionen Frauen gehen wenige Monate nach der Geburt wieder arbeiten. Mittelschichtfrauen überlassen ihr Baby dann einem Hausmädchen; Slumfrauen der achtjährigen Schwester. „In der Folge bekommt das Kleinstkind, wenn es Glück hat, Reisbrei mit Zucker zu essen; wenn es Pech hat, Schokolade, Chips und aufgeweichte Kekse vom nächsten Kiosk.“
„Auch die ärmsten Bangladeschis könnten sich weit besser ernähren, als sie es tun“, sagt Nauruj Jahan. „Leider jedoch essen meine Landsleute fast ausschließlich polierten Reis – ohne das Silberhäutchen, das die meisten Vitamine und Spurenelemente enthält.“ Viele kochen das wenige Gemüse, das sie kaufen, nur mit Wasser und ohne Fett. Die Folge: Die im Gemüse enthaltene Vitamin-Vorstufe Betakarotin wird nicht in Vitamin A umgewandelt. „Viele Slumbewohner geben zudem viel Geld für Handys und für die Hochzeit ihrer Töchter aus“, berichtet Jahan. „Und sie sparen am Essen, das inzwischen viele als Junkfood zu sich nehmen.“ Achselzuckend deutet die Ärztin auf einen Kiosk schräg gegenüber vom Beratungszentrum für Schwangere: Regale voller Kekse und Bonbons; Berge glitzernder Chipstüten, davor Pfannen und Töpfe, in denen in braun-schwarzem Öl allerlei Teigwaren brutzeln. Sechs, sieben Menschen drängeln sich vor der Kioskbraterei, derweil der Besitzer des Gemüse- und Obstlädchens daneben beschäftigungslos vor sich hin döst.
Für Noreen Prendiville vom UN-Kinderhilfswerk UNICEF ist eine nicht zu unterschätzende Ursache von Mangelernährung in Bangladesch nach wie vor die immer noch miserable Hygiene. „Nach unseren Erhebungen waschen sich gerade zwei Prozent der Mütter die Hände, bevor sie ihr Baby stillen. In der Folge werden Babys öfter krank, haben öfter Durchfall und leiden in der Folge an Mangelerscheinungen.“
Mangelernährung, versteckter Hunger, verstümmelt bis heute das Leben von zahllosen Menschen. Sie blieb aber über Jahrzehnte international sträflich unbeachtet und geht nur sehr langsam zurück. Erst seit einigen Jahren entwickelt sich eine internationale Diskussion, wie man Menschen in Entwicklungsländern nicht nur mit ausreichend Kalorien, sondern auch mit ausreichend Nährstoffen versorgen kann.
Bangladesch kann dabei bereits auf begrenzte Erfolge zurückblicken: Die Selbstversorgung mit dem Grundnahrungsmittel Reis und der allgemeine Anstieg der Einkommen haben Mangelernährung reduziert; desgleichen erfolgreiche Impfkampagnen und dramatische Erfolge bei der Behandlung durchfallkranker Kinder.
Ein wichtiger Baustein des Kampfes gegen Mangelernährung ist heute die Nahrungsergänzung mit wichtigen Spurenelementen. 80 Prozent aller Kinder erhalten Vitamin-A-Kapseln. Speisesalz ist mit Jod angereichert, Öl mit Vitamin A. Außerdem wurden Reissorten gezüchtet, die viel Zink oder Vitamin A enthalten. Künstliche Nahrungsergänzung allerdings kuriert nur Symptome des Mangels“, gibt Erica Roy Khetran zu bedenken. „Nein, ein nachhaltiger Kampf gegen Mangelernährung muss das Ziel haben, dass sich die Bevölkerung Bangladeschs aus eigener Kraft gesund ernährt.“ Die Bauern müssten neben Reis viele andere Nahrungsmittel produzieren; die Regierung müsse das mit gezielten Subventionen fördern; sie müsse die Rinder-, Milch- und Hühnerproduktion ankurbeln und – soweit nötig – den Import wichtiger Nahrungsmittel.
Am wichtigsten jedoch sei die Aufklärung. „Wir müssen nicht Armut überwinden, um Mangelernährung zu überwinden. Die meisten Haushalte in Bangladesch können mit den Ressourcen, die sie haben, ihre Ernährung dramatisch verbessern. Sie müssen nur ihr Verhalten ändern.“ Um dies zu erreichen, fördern auch deutsche Hilfsorganisationen wie Misereor und die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) massive Aufklärung.
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