Nigeria
Wenn Mütter sterben müssen
Der Journalist Thomas Kruchem reiste nach Nigeria – dem Schicksal von Frauen auf der Spur, die als junge Mütter schwer erkranken oder sterben müssen, weil sie gesundheitlich nicht ausreichend versorgt werden. Ein groß angelegtes Müttergesundheitsprojekt von Rotary hilft, die dramatische Lage in Nigeria zu verbessern – mit Erfolg
Gelber Putz bröselt von den Wänden des kleinen Zimmers; es riecht nach Urin und Schweiß. Drei Bettgestelle, darauf Spanplatten, bedeckt mit Plastikplane. Auf einer liegt, die Augen halb offen, ein kleiner Junge mit einer Infusion an der Schläfe. Daneben hält ein Vater die Hand eines wie tot daliegenden Mädchens und starrt auf das dritte Bett, auf dem ein junger Mann liegt – die Stirn gespalten, die linke Hand mit Handschellen ans Bett gekettet, offenbar ein Krimineller. Auf einer Bastmatte am Boden schließlich die 17-jährige Binta – hochschwanger, seit zwei Tagen geschüttelt von Wehen.
Das Schicksal dieser jungen Frau ist absehbar. Wird sie nicht rasch per Kaiserschnitt entbunden, dürfte sie schwere Quetschungen im Dammbereich erleiden und inkontinent werden. Sie wird – wie derzeit etwa eine Million Nigerianerinnen – chronisch an einer „Scheidenfistel“ leiden, vermutlich ihren Mann verlieren und zur Außenseiterin in ihrem Dorf werden.
„Das Schicksal junger Frauen wie Binta hat mich motiviert, hier in Nordnigeria aktiv zu werden“, sagt Prof. Robert Zinser, ein 83-jähriger Past-Governor aus Ludwigshafen. „Das massenhafte Auftreten von Fisteln ist Symptom einer empörend miserablen Gesundheitsversorgung junger Mütter.“ Zinser, früher Spitzenmanager eines deutschen Chemiekonzerns, gründete in den 90er Jahren mit anderen deutschen Rotariern die „Rotarian Action Group for Population Growth and sustainable Development“. Aus dieser Initiative entwickelte sich ab 2004 ein Projekt, das sich zunächst Fistel-Patientinnen widmete und inzwischen nachhaltig die Müttergesundheit insgesamt in Nigeria zu verbessern sucht – mit frappierendem Erfolg.
Unverblümt zeigt Zinser dem Besucher den Alltag im (nicht von „Rotary“ betreuten) Kura General Hospital. Dieses Bezirkskrankenhaus sollte, nach Vorgaben des Gesundheitsministeriums, über 75 ordentliche Betten verfügen, über Röntgen- und Ultraschallgerät, einen voll ausgestatteten Operationssaal sowie über – für mehrere Monate reichende – Vorräte an Anästhetika, Infusionen und Medikamenten. Tatsächlich gibt es fast nichts von all dem hier. Verlegen öffnet Pflegeleiter Abu Bakar einen Operationssaal, in dem vor weißen Kacheln nur ein verrosteter Metalltisch steht – unter einer Lampe ohne Birnen. Und in der Medikamentenkammer findet sich nicht eine Tablette; dafür stehen neben dem sperrangelweit geöffneten Kühlschrank allerlei Schrubber, kaputte Stühle und Kartons voller Unrat.
„Uns fehlen eine Menge Dinge hier“, sagt der Pflegeleiter achselzuckend. „Unser Material und unser Budget sind so karg bemessen, dass wir damit das Krankenhaus nicht ordentlich betreiben können. Medikamente, Betttücher, Matratzen, Moskitonetze – alles fehlt. Auch Decken brauchen wir – und einen Krankenwagen.“ Das Zimmer des Chefarztes allerdings wirkt gediegen ausgestattet – mit teuren Möbeln und einer Klimaanlage. Nach dem Staub auf dem Tisch zu urteilen jedoch hat das Zimmer länger niemand betreten.
„So wie im Kura General Hospital sieht es in fast allen Krankenhäusern Nigerias aus“, sagt in Kano Andrew Karlyn, Vertreter der amerikanischen Hilfsorganisation „Population Council“. Seit Jahren steige die Todesrate unter Menschen, die qualifizierter medizinischer Behandlung bedürfen – die Todesrate insbesondere jedoch unter Frauen. Tatsächlich ist die Müttersterblichkeit in Nigeria seit 1995 um ein Drittel auf 60.000 jährlich gestiegen; im Norden sterben bei 100.000 Geburten durchschnittlich 2400 Frauen; 1,2 Millionen Nigerianerinnen erleiden Jahr für Jahr bei der Geburt schlimme Verletzungen und werden auch danach nicht ordentlich versorgt. „Die Basisgesundheitsversorgung in Nigeria befindet sich de facto außer Betrieb“, sagt Karlyn, „während der Bedarf rapide wächst.“
Dabei wurde erst in den 80er und 90er Jahren ein durchaus zweckmäßiges Gesundheitswesen in Nigeria eingeführt – mit viel Hilfe ausländischer Fachkräfte, die sich dann jedoch immer mehr aus Krankenhäusern und Gesundheitsstationen zurückzogen. Um die Eigenverantwortung der Partner zu stärken, verlegte sich die Entwicklungshilfe immer mehr auf (Politik-)Beratung und Budgethilfe – mit der Folge, dass gerade geschaffene Strukturen des Gesundheitssystems atemberaubend schnell verrotteten – in einem Sumpf von Korruption und Schlamperei. Seit Jahren verspricht, zum Beispiel, Nigerias Regierung, die über gewaltige Öleinnahmen verfügt, 15 Prozent ihres Budgets ins staatliche Gesundheitswesen zu stecken; tatsächlich wurden es nie mehr als fünf Prozent. Stattdessen transferieren Nigerias Politiker, nach Schätzungen der Weltbank, Jahr für Jahr zehn Milliarden Dollar auf Auslandskonten.
„Und so existiert heute von vielen ländlichen Krankenhäusern nur noch die leere Hülle eines heruntergekommenen Gebäudes“, sagt Andrew Karlyn. Viele Mitarbeiter wirtschaften in die eigene Tasche; andere handeln ausschließlich auf Befehl; die wenigen guten Gesundheitsexperten wandern ab in private Praxen oder ins Ausland. „Und die verzweifelten Patienten strömen jetzt in die großen Kliniken der Metropolen, die eigentlich schwer zu behandelnden Kranken vorbehalten sind.
Qualitätskontrolle
Zum Glauben, dass es anders geht, musste auch Robert Zinser sich zwingen, als er in Nordnigeria Krankenhäuser vorfand, in denen jede 16. werdende Mutter starb. Ohne zu zögern jedoch machten sich Projektkoordinator Zinser und seine Mitstreiter an die Arbeit. Der Gynäkologe Prof. Wolfgang Künzel (Gießen) zeichnete von vornherein verantwortlich vor allem für die Qualitätssicherung in den betreuten Krankenhäusern – unterstützt von Dr. Manfred Gruhl (Weißenburg) sowie den beiden Österreichern Dr. Peter Neuner und Harald Marschner. Und weil man dabei im muslimisch-konservativen Nordnigeria auf allerlei Widerstände stoßen kann, mobilisierte Zinser, mithilfe lokaler Rotarier, die hier sehr populären traditionellen Eliten – mit durchschlagender Wirkung: Seit Zinser offiziell Berater des Emirs von Kaduna ist, sehen Krankenhausverwalter und Dorfälteste in seinen Vorschlägen Ideen des Emirs.
In Kooperation auch mit der lokalen Regierung sanierte das Projekt bislang zehn Entbindungsstationen in den Bundesstaaten Kano und Kaduna und etablierte in deren Einzugsgebiet eine solide Gesundheitsberatung für werdende Mütter. „Unsere ‚guidelines‘ waren sorgfältige Ausbildung des Personals, klare Richtlinien für ein effizientes Krankenhaus-Management und knallharte Qualitätssicherung“, erklärt Zinser. „Mit den Ärzten und Hebammen der Krankenhäuser erheben, analysieren und evaluieren wir regelmäßig Daten. Und im Rahmen eines ‚benchmarking‘, des systematischen Vergleichs von Leistungs- und Erfolgsdaten, reduzieren wir Stück für Stück die Ursachen von Müttersterblichkeit.“
Der Erfolg zeigt sich schon rein äußerlich: Die Entbindungsstation im Krankenhaus der Kleinstadt Wudil zum Beispiel ist heute, mit ihrem zweckmäßig eingerichteten Operationssaal, der gut gefüllten Medikamentenkammer und den leuchtend weiß bezogenen Betten ein Modell für umliegende Krankenhäuser. Auch die Zahlen sind eindeutig: In den zehn vom Projekt betreuten Entbindungsstationen ist die Müttersterblichkeit binnen zwei Jahren um, im Schnitt, zwei Drittel gesunken. Robert Zinser und seine Crew haben mehrere Hundert Frauen vor dem sicheren Tod bewahrt.
Die Chefhebamme
Während nun die – wie Zinser immer wieder anreisenden – deutschen Ärzte die Entwicklung der Entbindungsstationen überwachen, kümmert sich Zainab Pawa, die Chefhebamme des Projekts, vor allem um schwangere Frauen in den Dörfern. Zainab mit ihrer 30-jährigen Berufserfahrung weiß genau, wie sich die Situation einer gebärenden Frau zuspitzen und wie man – mit meist geringem Aufwand – dagegen vorgehen kann. Für 40 Prozent aller Todesfälle sei die sogenannte Eklampsie verantwortlich, erzählt sie. Dieses Syndrom aus hohem Blutdruck und Eiweiß im Urin verursache Krämpfe und führe unbehandelt zum Tod; es kann jedoch im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge frühzeitig erkannt und mit etwas Magnesiumsulfat behoben werden. Zweite große Gefahr sind Blutungen nach der Entbindung. Auch diese kann die Hebamme leicht beheben – mit den Medikamenten Misoprostol oder Oxytozin. Und für Frauen, die schon viel Blut verloren haben, gibt es ein neuartiges Neopren-Kleidungsstück, das die Blutgefäße der Frau zusammenpresst und so für oft entscheidende Stunden die Sauerstoffversorgung des Gehirns sorgt.
Leider, sagt Zainab Pawa, herrschen vielerorts im konservativ muslimischen Nordnigeria noch immer soziale Normen, die Frauen anhalten, Schwangerschaft und Entbindung aus eigener Kraft zu bewältigen – Normen, die die Hebamme für schlicht frauenfeindlich hält. Sie seien, neben dem desolaten Zustand des Gesundheitswesens, die zweite große Ursache für die hohe Müttersterblichkeit.
Und so hält Zainab in Dörfern wie Sibri, einem Weiler aus strohgedeckten Lehmhütten, ihre legendär instruktiven und unterhaltsamen Vorträge. Männer in weißen Baumwollanzügen und bunt gekleidete Frauen mit turbanähnlichen Kopftüchern lauschen, lachen und nicken. Eine Frau bleibe länger gesund, wenn sie frühestens mit 16 ein Kind bekomme, erfahren die Dorfbewohner; sie werde Geburten weit besser überstehen, wenn sie schon zur Schwangerschaftsvorsorge das Krankenhaus aufsuche – und erst recht bei Komplikationen während der Entbindung.
„Fast alle Frauen in Sibri gehen heute zur Schwangerschaftsvorsorge“, sagt Zainab Pawa. Ein sensibles Thema für fromme Muslime sei jedoch die Familienplanung. Es gehöre zu ihrem Stolz, zum Wachstum ihres Volkes beizutragen. Andererseits sähen sie zunehmend ein, dass Schwangerschaften in zu kurzen Abständen die Gesundheit einer Frau und somit auch ihren Wert für den Mann ruinieren. „Folglich raten wir den Leuten nicht, die Zahl ihrer Kinder zu begrenzen, sondern in etwas größerem Abstand Kinder zu bekommen – etwa alle drei Jahre. Wenn Sie das tun, landen sie schließlich bei vielleicht fünf, aber nicht bei zwölf Kindern.“ – Ein relativ neuer Begriff, das „child spacing“, ist dank des Rotarier-Projekts erstaunlich populär geworden in Nordnigeria.
Ein Modell für das Gesundheitswesen
„Wir wollen ein Modell für die Sanierung des nigerianischen Gesundheitswesens liefern“, sagen die deutschen Professoren Zinser und Künzel – und fügen hinzu, dass der Erfolg viele Eltern habe: Rotary Clubs aus Deutschland und Österreich, die „Aventis-Stiftung“ und das BMZ haben bislang eine Million Euro aufgebracht; Satellitenprojekte etlicher Clubs finanzieren die Wasserversorgung von Krankenhäusern und die Rehabilitation bei der Geburt verletzter Frauen. Hinzu kommen Partner vor Ort: UNFPA-Chefin Agathe Lawson, eine Rotarierin, und nigerianische Rotarier wie Dr. Kola Owoka und Dolapo Lufadeju erleichtern die Arbeit im sensiblen soziokulturellen Terrain Nordnigerias; der niederländische Chirurg Kees Waaldijk operiert Jahr für Jahr über tausend Fisteln und hilft bei der Ausbildung nigerianischer Ärzte; traditionelle „town cryer“ und „radio soaps“ der US-Hilfsorganisation „Population Media Center“ haben das Anliegen des Rotarier-Projekts bekannt und populär gemacht. „Hinzu kommt, dass unsere Freunde unter den traditionellen Führern es als ihr persönliches Anliegen ansehen, die Lebenssituation von Frauen zu verbessern“, sagt Zinser und nennt an erster Stelle Dr. Shehu Idris, den Emir von Zazzau in Zaria im (Bundesstaat Kaduna). Seit 2008 zählt Robert Zinser zum offiziellen Beraterkabinett des Emirs.
Die Uhren ticken anders
Das Projekt der deutschen und österreichischen Rotarier hat innovativ und erfolgreich das Effizienzdenken moderner Medizin und modernen Managements mit den gar nicht so innovationsfeindlichen Traditionen Nordnigerias verbunden. Nun will Robert Zinser die zehn neu aufgebauten Müttergesundheitszentren in die Hände der Regierung legen – in der Hoffnung, dass diese die Zentren fortführt, das in ihnen verwirklichte Modell auf andere Kliniken überträgt und so Nachhaltigkeit ermöglicht. Seine Hoffnung gründet Zinser vor allem auf den starken Einfluss traditioneller Autoritäten in Nordnigeria – die nach seinen Erfahrungen die wahren Bedürfnisse der Bevölkerung klarer sehen als gewählte und oft unbeliebte Politiker. Angesichts bedrückender Erfahrungen im Nigeria der letzten Jahre weiß der agile 83-Jährige allerdings auch, dass das Gesundheitswesen hier noch über Jahrzehnte fachkundiger ausländischer Betreuung bedarf – um schließlich auf eigenen Füßen zu stehen. „Die Uhren ticken einfach anders in Nigeria.“
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