Porträt
Der Erweiterer
Während der Brexit und die Neuwahl des EU-Parlaments derzeit die Schlagzeilen dominieren, arbeitet Erweiterungskommissar Johannes Hahn (RC Wien-Stadtpark) konsequent am Lückenschluss auf dem Balkan
Eine Leberkässemmel liegt auf dem Schreibtisch des kleinen Büros im Wiener EU-Haus, das Johannes Hahn benützen kann, wenn er in seiner Heimatstadt ist. „Die gibt es in Brüssel nicht“, sagt er fast entschuldigend. Und allzu oft ist er ja nicht in Wien. Kein Wunder, wenn sich da manchmal ein kleiner Heißhunger aufstaut. Einige Wochen waren es diesmal, zum besonderen Leidwesen seines dreijährigen Enkels. Der weiß nur, dass sein Opa viel unterwegs ist. 220-mal ist er im Vorjahr geflogen, fast 200-mal hat er einen Koffer gepackt. Da kann es schon einmal vorkommen, dass er in seiner Wiener Wohnung einen Schalter sucht, der an der Stelle im Vorzimmer nur in seiner Brüsseler Wohnung vorhanden ist.
Den Stress dieses Lebens merkt man seiner Gelassenheit nicht an. Ruhig plaudernd erzählt er von seinem Blick auf die großen europäischen Themen. Streift über Nordafrika, die Türkei, die Ukraine. Brexit? „Ich glaub’, das Wort kann niemand mehr hören“, schmunzelt er. Aber alles hat auch eine positive Seite. „Ich bin Mitglied der Partei des halb vollen Glases, nicht der des halb leeren.“ Positiv sei, dass Europa nun zusammengerückt ist. In allen Staaten habe die Zustimmungsrate zur EU zugenommen. Wirtschaftlich werde sich der Austritt verdauen lassen, aber gesellschaftspolitisch würden die Briten fehlen, sagt er, in ihrem Eintreten für Marktwirtschaft und Liberalität.
Seine Vision von Europa ist die eines starken Players im globalen Wettbewerb. Dafür müsse man auch eine jetzt noch schwache Zone einbinden, den Westbalkan. Ein Beitritt von Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Kosovo, Albanien sowie Bosnien und Herzegowina sei schon geografisch ein logischer Lückenschluss. Der würde auch Griechenland helfen, für dessen wirtschaftliche Rettung sich die EU ohnedies schon einmal sehr weit hinausgelehnt hat. „Dafür hat sich Griechenland jetzt auch sehr für die Beilegung des Namensstreits um Mazedonien engagiert“, lobt der Erweiterungskommissar. Dennoch wird es für die Beitrittskandidaten noch ein langer Weg. Dabei geht es nicht nur um die Wirtschaftskraft, sondern vielmehr um die Sicherheit im Rechtsstaatlichen. „Gesetze gegen Korruption haben alle, aber die Frage ist, wie sie gehandhabt werden. In den postkommunistischen Ländern gibt es immer noch eine starke Polizeistruktur, aber eine gnadenlos schwache Justiz“, analysiert Hahn trocken, und daher müsse auch erst das Vertrauen der Bevölkerung in die demokratischen Abläufe aufgebaut werden. Das braucht Zeit: „Mit Kroatien haben wir acht Jahre verhandelt, ich gehe nicht davon aus, dass es mit den aktuellen Kandidaten schneller geht.“
Friedensperspektive für den Balkan
Aber die EU wird diesen Erweiterungsschritt gehen, ist Hahn überzeugt. „Wir müssen diesen Ländern eine Perspektive geben, der Balkan ist immer noch eine Zone der Unruhe.“ Die Gründungsidee der Europäischen Union zur Friedenssicherung gilt immer noch. „Am Balkan ist vieles nur schwarz-weiß. Man ist Sieger oder Verlierer. Kompromisse, die ja die Demokratie ausmachen, sind schwierig.“
Während es in den etablierten Ländern mehr um den sozialen Frieden im Inneren geht, sind am Balkan noch viele Kriegswunden offen. Hahn ist besorgt darüber, dass etwa in Bosnien-Herzegowina die Generation, die am Krieg beteiligt war, miteinander reden kann, „aber die Jüngeren, die vielleicht damals noch gar nicht geboren waren, die sind extrem feindselig“. Er findet es sehr positiv, dass Rotary in Bosnien-Herzegowina darauf beharrt, in den Clubs immer ethnisch durchmischt zu sein und es keine rein serbischen, bosniakischen oder kroatischen Runden gibt. Aber in der Politik engagieren sich dort fast nur die Funktionäre. Die Zivilgesellschaft, die Bürger halten sich heraus. Politik definiert sich über die Ethnien, kaum über Ideologien.
Somit haben die Beitrittsverhandlungen der EU mit den Balkanländern auch einiges mit den Werten von Rotary zu tun. „Toleranz und das Akzeptieren von Anderssein sind Voraussetzung für einen Erfolg“, sagt Hahn. Die Vier-FragenProbe gilt auch für die Politik, auch da geht es um Fairness, um das Wohl aller Beteiligten.
„Kein guter Rotarier“
Aber gleich nimmt sich der Kommissar zurück. Nein, ein wirklich guter Rotarier sei er nicht, sagt er fast kleinlaut. „Ich bin wahrscheinlich schon rekordverdächtig wegen meiner langen Beurlaubung.“ Johannes Hahn ist seit neun Jahren Mitglied der Europäischen Kommission, die letzten fünf davon zuständig für Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen. Und entsprechend wenig war er bei den Meetings seines Clubs. Der RC Wien-Stadtpark trifft sich jeden Dienstag. „Da bin ich so gut wie nie in Wien. Wir haben unsere wöchentliche Kommissionssitzung entweder am Mittwochvormittag in Brüssel oder am Dienstagnachmittag in Straßburg.“ Auch um auf den Reisen andere Clubs zu besuchen fehlt die Zeit. Ab und an reicht es für Vorträge in Clubs.
Die Frage, ob ein guter Rotarier nur der mit regelmäßiger Präsenz ist, oder auch der, der die rotarischen Werte in seinem Berufsleben umsetzt, ist hier nicht weiter zu vertiefen. Hahn trägt das Abzeichen am Revers und freut sich über Plaketten von Rotary an Hotels, in denen er eincheckt. Sein unstetes Leben ist kein Einzelfall.
Deshalb hat es schon einmal Bemühungen für regelmäßige Präsenzmeetings in Brüssel gegeben. „Das ist aber nicht zustandekommen, weil so viel unterwegs wie ein Kommissar für Nachbarschaftspolitik ist dann doch kaum ein Rotarier. Und die Mitarbeiter in Brüssel wechseln meist fix in einen Club in der Stadt.“
Abkehr von der Einstimmigkeit
Ob er nach Ablauf dieser Funktionsperiode wieder mehr Zeit für Rotary haben wird, ist ungewiss. Denn nach der Wahl zum EU-Parlament werden die Mitgliedsländer ihre neuen Kommissionskandidaten nominieren. In Österreich macht das der Hauptausschuss des Nationalrates auf Antrag der Regierung. Da sollte Hahn keine schlechten Karten haben. Es wäre seine dritte Periode, die ihm nach Brüsseler Usancen wohl wieder ein anderes Ressort bescheren würde. Strikt spricht er sich allerdings gegen Überlegungen aus, nicht mehr jedem Land einen Vertreter zuzugestehen. „Da würde viel im Beziehungsgeflecht verloren gehen“, warnt er. Aber er ist dafür, die Entscheidungen in der EU zu straffen. Das Einstimmigkeitsprinzip müsse fallen. „Ja, wir müssen zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen kommen. Ich brauche mit meinem Team oft ein Drittel der Zeit, um ein oder zwei Länder von etwas zu überzeugen, wo alle anderen schon gar nicht mehr diskutieren. Das muss man überwinden.“
Ein Abkoppeln von Langsameren, ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten, ein Kerneuropa, das in der Integration enger zusammenrückt, lehnt er ab. „Da würde Europa auseinanderdriften, aber wir müssen weltpolitikfähig sein.“ Da gebe es zum Gemeinsamen keine Alternative. Und alle, die sagen, die EU müsse Randthemen verlieren, um sich auf die Stärkung der inneren Struktur zu konzentrieren, hätten ihm noch nicht sagen können, was man ohne Einbußen verlieren könnte.
Er empfindet es als besonderes Glück, all diese Themen auch zu Hause reflektieren zu können, mit seiner Partnerin, der ehemaligen Vizekanzlerin Susanne Riess. „Natürlich ist sie mehr die Innenpolitikerin. Aber sie versteht mein Geschäft.“ Damit meint er die Abläufe, die Unberechenbarkeit von Sitzungen und die Reisen, aber auch Strategien und Machtmechanismen in der Politik. Mit ihr kann er abschalten, wenngleich ihm das neben Brüssel und Wien mit Salzburg einen dritten Wohnsitz beschert hat. Dass ihn Wien damit seltener sieht, das verhindert schon sein Enkel. Ihn vom Kindergarten abzuholen, gelingt nicht oft. Aber wenn ihm der Kleine dann schon sagt, welche U-Bahn der dienstwagengewohnte Spitzenpolitiker nehmen muss, weil er in seinem Auto keinen Kindersitz hat, dann ist er endgültig wieder down to earth.
Zur Person
Dr. phil. Johannes Hahn, geb. 1957 (RC Wien-Stadtpark, seit 1993), ist seit 2010 Mitglied der Europäischen Kommission, zunächst zuständig für Regionalpolitik, seit 2014 für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen. Davor war er nach verschiedenen Managementfunktionen Mitglied der Wiener Landesregierung und 2007–2010 Bundesminister für Wissenschaft und Forschung.
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