https://rotary.de/ein-club-erforscht-seine-geschichte-a-534.html
Rotary historisch

Ein Club erforscht seine Geschichte

Als vorletzter der 43 deutschen Vorkriegsclubs hat der RC Bielefeld 1935 seine Charter erhalten. Zum 75. Jubiläum legt der Club eine Chronik vor, die ausführlich insbesondere die Anfangszeit unter dem NS-Regime beleuchtet

Matthias Schütt03.06.2011

Die erste Hälfte der Clubgeschichte handelt von gerade einmal 15 Jahren – von genau der Phase, in der Rotary recht eigentlich gar nicht stattfinden konnte. Sie umfasst die Gründung des RC Bielefeld 1935, die Rückgabe der Charterurkunde nach nur zwei Jahren, als die deutschen Clubs 1937 die kollektive Selbstauflösung beschlossen, sowie den Rückzug in den privaten Freundeskreis. Erst im zweiten Versuch – nach Gründung der Bundesrepublik – konnte sich rotarisches Leben nach heutigem Verständnis entwickeln in Bielefeld (seit 1950) wie in den anderen Clubs der Aufbaujahre. Sie mussten ihren Platz im neuen demokratischen Gesellschaftssystem erst suchen und vorsichtig die Fühler in die Nachbarländer ausstrecken, um allmählich zu anerkannten Partnern im weltweiten Netzwerk der Rotary Clubs zu werden.

Seriöse „Tiefenbohrungen“

Dieser zweite Teil ist in der Regel bei Weitem nicht so spannend wie die Frühgeschichte, und das zeigt eben auch die Gewichtung dieser Chronik. Sie ist, wie der Verfasser, Altpräsident Ulrich Andermann, Professor für Geschichte in Osnabrück, zu erkennen gibt, für die Vorkriegsclubs geradezu unvermeidlich. Denn eine kursorische Zusammenfassung der Anfangsjahre würde nicht nur den Regeln seriöser Geschichtsschreibung widersprechen, sondern auch dem rotarischen Werteverständnis. Außerdem stehen für „Tiefenbohrungen“ inzwischen die grundlegenden Quellen zur Verfügung. Bis vor wenigen Jahren konnte der knappe Blick auf die NS-Jahre auch damit gerechtfertigt werden, dass gesicherte Unterlagen nicht erreichbar seien.

Dank der Erschließung der Clubunterlagen im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin sind interessierte Clubs jetzt in der Lage, die Aktivitäten ihrer rotarischen Vorväter zu rekonstruieren, ein Angebot, von dem jedoch noch wenig Gebrauch gemacht wird, wie zu lesen ist. Dabei zeigt das Bielefelder Beispiel, wie spannend die Gründungsgeschichte Rotarys in Deutschland ist, auch wenn der Erkenntnisprozess mitunter Wunden aufreißt. Wie man souverän mit den Quellen umgeht und ungeachtet etwaiger Empfindlichkeiten im eigenen Club bzw. im lokalen Umfeld sich um eine objektive Einordnung der Fakten bemüht, hat Andermann in der vorliegenden Schrift beispielhaft vorgeführt. „Wir sollten mit unseren Urteilen sehr vorsichtig sein“, ist dabei erklärte Richtschnur; Andermann bezieht sich auf die von Ottfried Dascher (RC Dortmund-Westentor) 2005 empfohlene „Bescheidenheit“ der Nachgeborenen, die nicht vorzurechnen hätten, „was in den Jahren zwischen 1933 und der erzwungenen Auflösung 1937 alles falsch gelaufen ist“. Es gehe vielmehr um die Erörterung der Frage, „wieso sich die deutschen Eliten, und zu ihnen gehörte Rotary nun einmal nach seinem Selbstverständnis, von dem System korrumpieren lassen konnten“. Dafür liefert Bielefeld interessantes Material. Dass viele Rotarier mit dem NS-Staat durchaus einverstanden waren, ist vielfach belegte Tatsache, wobei der Austritt bzw. Ausschluss jüdischer Mitglieder nur ein Beispiel dafür ist, wie weit man bereit war, die eigenen Grundprinzipien zu verbiegen. Den Gipfel der Anbiederung markierte die geradezu aberwitzige Idee, Rotary dadurch die Existenz zu sichern, dass man Hermann Göring oder Josef Goebbels als nationalen Schirmherrn gewann …

Unter Anbiederung will der Autor auch das verbuchen, was fatal nach Verrat aussieht: Ein SS-Mitglied bietet seinen Vorgesetzten an, „laufend die Wochenberichte, Mitgliederlisten und alles Gewünschte“ aus dem Freundeskreis zu liefern. Sein Urteil begründet Andermann mit den „politisch unkritischen“ Wochenberichten und wenig aufschlussreichen Mitgliederlisten. Was gab es da schon viel zu verraten? Dass Auskünfte aus einem vertraulichen Kreis für die betroffenen Clubfreunde gravierende Folgen haben mochten, wird leider gar nicht erst reflektiert. Dem SS-Mann wird ohne Weiteres die Rolle des gutwilligen Rotariers zugestanden, der mit seinem Angebot nur etwaiges Misstrauen zerstreuen will. Doch solche Einzelfälle sind vergleichsweise unbedeutend gegenüber den Rotariern, die nationalsozialistische Verbrechen ideologisch vorbereiten halfen oder sogar an ihnen beteiligt waren. Für zwei Bielefelder Gründungsmitglieder hat der Autor dazu bedrückende Fakten ermittelt. Der eine ist der Naturwissenschaftler und Naturphilosoph Bernhard Bavink (1879–1947), ein Wegbereiter der rassenhygienischen Vorstellungen der Nationalsozialisten, der andere ist der Chefarzt der von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, Werner Villinger (1887–1961), der nachweislich an medizinischen Menschenversuchen beteiligt war und noch 1961 über Wiedergutmachungsleistungen mitentscheiden konnte.

Heikle Vorträge im Club

Beide referierten im Club über ihre Arbeitsgebiete, Villinger berichtete wie selbstverständlich über Sterilisationen und „erbbiologisch minderwertige Kinder und Jugendliche“, was einerseits zu Diskussionen „unter religiösen, juristischen und allgemein menschlichen Gesichtspunkten“ führte, andererseits aber auch als Beiträge zum Verständnis eines „grossen und tiefen Gedankenguts“ begrüßt wurde.

Im Diskussionsbedarf bei bereitwilliger Akzeptanz der neuen Werteordnung zeigt sich die Zerrissenheit des aufgeklärten Bürgertums, aus der seine Korrumpierung hervorging. Dafür liefert dieses Buch zum Teil bestürzende Belege. „Für uns heute ist die historische Wahrheit bei einigen Aspekten schmerzhaft“, schreibt Bielefelds Clubpräsident Rolf Mühlmann in seinem Vorwort: „Aber was kann besser sein als die Wahrheit?“

Matthias Schütt

Matthias Schütt ist selbständiger Journalist und Lektor. Von 1994 bis 2008 war er Mitglied der Redaktion des Rotary Magazins, die letzten sieben Jahre als verantwortlicher Redakteur. Seither ist er rotarischer Korrespondent des Rotary Magazins und seit 2006 außerdem Distriktberichterstatter für den Distrikt 1940.