Titelthema
Die Lebensversicherung der Menschheit
Tief unter dem norwegischen Eis lagern Millionen von Kulturpflanzensamen, um die Ernährung der Weltbevölkerung sicherzustellen. Ein Gespräch mit Stefan Schmitz vom Global Crop Diversity Trust
Im Gegensatz zu den großen Wirbeltieren findet das Sterben zahlreicher Pflanzen, auch Nutzpflanzen, im Verborgenen statt. Wie steht es um die globale Vielfalt der Nutz- und Kulturpflanzen?
Vor etwa 12.000 Jahren, zum Ende der letzten Eiszeit, begann der Mensch seine Existenz als Jäger und Sammler gegen ein Leben als Ackerbauer und Viehhirte zu tauschen. Er lernte verschiedene Pflanzen- und Tierarten zu domestizieren. So schuf er im Laufe der Jahrtausende etwa 200.000 Reissorten, 120.000 Weizensorten, 7500 Apfelsorten, 4000 Kartoffelsorten und 3000 Sorten Kokosnüsse. Die moderne Landwirtschaft hat sich jedoch von dieser Vielfalt verabschiedet und setzt stattdessen auf Züchtung und Anbau von immer weniger ertragreichen Sorten. Nach groben Schätzungen sind im Laufe der letzten 100 Jahre 75 Prozent aller alten Kulturpflanzensorten von den Äckern, Wiesen, Weiden und Dauerkulturen der Welt verschwunden. Früher wurden in Europa etwa 1000 Apfelsorten angebaut. Im heutigen Erwerbsanbau stammen alle Äpfel genetisch von nur sechs Sorten ab.
Tief im Permafrost auf Spitzbergen wird seit 2008 das Überleben der Menschheit gesichert. Am Ende eines 120 Meter langen Tunnels lagern Millionen von Samen aus aller Welt. Wie muss man sich diesen Saatguttresor vorstellen?
Mitten in der unendlichen Weite der arktischen Tundra, zu erreichen nur über eine unscheinbare Landstraße, befindet sich der in den Berghang gebaute Eingang zum Saatguttresor. Dieser Eingang aus Beton ist mit sehr massiven Stahltüren fest verschlossen, kein Mensch weit und breit. Einige Überwachungskameras sind der einzige Hinweis darauf, dass hinter diesen Türen etwas Schützenswertes bewahrt wird. Das Überwachungspersonal sitzt im Hauptort der Insel, Longyearbyen, in warmen Büroräumen vor den Bildschirmen.
Wenn sich die schweren Stahltüren öffnen, und das tun sie nur sehr selten, dann wird der Weg frei zu dem Tunnel tief in den Berg hinein bis zu einem größeres Gewölbe. In diesem Gewölbe befinden sich wiederum drei fest verschlossene Türen zu den eigentlichen Tresoren, den Kühlkammern. In denen ist die Umgebungsluft, die dort eine konstante Temperatur von minus 8 Grad hat, auf minus 18 Grad heruntergekühlt. In den Kühlkammern reihen sich hohe Regale aneinander, wie in einem modernen Logistikzentrum oder einem Selbstbedienungsmöbelhaus. Diese Regale sind gefüllt mit fest verschlossenen Kisten. In diesen Kisten befinden sich die eigentlichen Saatgutproben, eingeschweißt in etwa handgroße Aluminiumtüten. Bislang sind es etwa 1,2 Millionen solcher eingetüteten tiefgefrorenen Proben. Da jede dieser Proben im Schnitt etwa 500 Samenkörner enthält, sind dort etwa 600 Millionen Samenkörner eingelagert. Und es werden jährlich mehr.
Minus 18 Grad, die gleiche Temperatur wie in einem haushaltsüblichen Drei-Sterne-Gefrierschrank, sind optimal für eine maximale Lebensdauer der eingelagerten Samen, vor allem seltener Sorten von Weizen, Sorghum, Gerste, Hirse, Mais, Reis, Bohnen und Linsen.
Der Tresor würde sogar einen Asteroideneinschlag überstehen, weshalb ihn Apokalyptiker als „Doomsday Vault“ bezeichnen. Aber was genau ist seine Funktion?
Die Samen im Svalbard Global Seed Vault sind durch Aussaat im Feld vervielfältigte Sicherheitskopien von Kulturpflanzensamen, die in Saatgutbanken überall auf der Welt für Forschungs- und Züchtungszwecke gelagert werden. Mit seinen Duplikaten ist der Tresor auf Svalbard gewissermaßen das zentrale Backup all dieser Saatgutbanken – für den Fall, dass Kriege oder Naturkatastrophen deren einmalige Samenschätze zerstören. Im syrischen Bürgerkrieg wurde 2015 das International Center for Agricultural Research in the Dry Areas (ICARDA) nahe Aleppo vollständig zerstört, mit ihr die bedeutendste Saatgutsammlung in der Region des "fruchtbaren Halbmonds". Glücklicherweise hatte ICARDA schon vor dem Krieg seine gesamten Samenschätze dupliziert und die Sicherungskopien in den hohen Norden versendet. Als ICARDA später dann an seinen neuen Standorten im Libanon und in Marokko seine Forschungs- und Züchtungsarbeit fortsetzte, konnten die zuvor geretteten Samen aus dem Tresor auf Svalbard zurückgeholt werden und die Basis für den Wiederaufbau des alten Aleppo-Bestandes bilden.
Bauern in Taiwan pflanzten einst 1700 Sorten Reis an, heute machen auf der Insel drei besonders ergiebige Sorten mehr als 80 Prozent der Ernte aus. Muss es bei jetzt mehr als acht Millionen Menschen auf der Erde nicht genau darum gehen, diese besonders produktiven Sorten aller Nutzpflanzen zu fördern?
Ohne Zweifel, die weitere Förderung produktiver Sorten ist ein zentraler Beitrag zur Sicherung der Welternährung. Aber diese produktiven Sorten müssen ständig züchterisch weiterentwickelt werden. Ohne Weiterentwicklung verlieren sie ihre Ertragskraft. Sie müssen ständig an neue Pflanzenkrankheiten und Schädlinge angepasst werden. Im Klimawandel müssen sie außerdem in der Lage sein, höhere Temperaturen, längere Trockenperioden und heftigere Starkregen zu überstehen. Züchtung muss immer auf vorhandene genetische Vielfalt zurückgreifen und diese in einem hochkomplizierten Prozess einkreuzen. Moderne Pflanzenzüchtung benötigt heute 50, manchmal 100 verschiedene existierende "alte" Sorten mit jeweils besonderen genetischen Merkmalen, um daraus eine neue Sorte mit erwünschten besseren Eigenschaften hervorzubringen. Da diese existierenden "alten" Sorten heute nicht mehr auf den Feldern anzutreffen sind, müssen sie zumindest in Saatgutbanken vorgehalten werden.
Neben der genetischen Vielfalt der heute weit verbreiteten Kulturpflanzen wie etwa Reis, Weizen, Mais und Kartoffeln dürfen wir nicht übersehen, dass es viele weitere Kulturpflanzen gibt, deren mögliche Bedeutung für die Welternährung bisher kaum erforscht ist. Ich denke beispielsweise an Sorghum und Hirse. Viele dieser vernachlässigten Pflanzen weisen große Hitzetoleranz auf, geben sich mit wenig Wasser zufrieden, stellen keine großen Ansprüche an die Bodenqualität oder sind robust gegenüber Krankheiten und Schädlingen. Ich bin überzeugt, dass es sich lohnt, mehr Geld in die Erforschung der Potenziale dieser Pflanzen und in deren Züchtung zu investieren. Gleiches gilt für Obst und Gemüse, das in vielen Teilen der Welt einfach zu teuer und für die breite Bevölkerung unerschwinglich ist. Alle Anstrengungen allein auf die Weiterentwicklung von Reis und Weizen zu konzertieren, wäre ein großer Fehler.
Gibt es eine reelle Chance, die Vielfalt der Kultur- und Nutzpflanzen weltweit, aber auch in Deutschland und Österreich wieder deutlich zu erhöhen?
Das Bewusstsein für die Bedeutung dieser Vielfalt wächst. Egal, ob jemand Freude an vielfältiger Esskultur hat, vom Wert einer abwechslungsreichen Ernährung für die eigene Gesundheit überzeugt ist oder einen bewussten Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit in der Welt leisten möchte: Immer mehr Menschen haben einen persönlichen Bezug zur Ernährung und möchten der verbreiteten Kultur des Fast Food etwas entgegensetzen. Politik, Nahrungsindustrie und Lebensmitteleinzelhandel sollten dieses wachsende Unbehagen aufgreifen. Wenn sich alle Akteure in die gleiche Richtung bewegen, wenn Marketingstrategien der großen Konzerne das Bestreben nach vielfältiger, gesunder und nachhaltiger Ernährung unterstützen, statt dieses zu konterkarieren, dann kann "mehr Vielfalt auf dem Teller" vom Nischenphänomen zum Mainstream werden.
Der Global Crop Diversity Trust hat seinen Sitz in Bonn. Welche Aufgabe hat er und wie sieht seine Arbeit aus?
Saatgutbanken überall auf der Welt haben die verantwortungsvolle Aufgabe, die Samen der vom Aussterben bedrohten Kulturpflanzenarten und ihrer in der Natur vorkommenden wilden Vorfahren einzusammeln, bevor sie für immer verloren sind. Diese gesammelten Samen müssen dann sorgsam katalogisiert und konserviert werden. Und sie sollten dupliziert werden und die Duplikate sollten an einem sicheren Ort, möglichst im Tresor auf Svalbard, aufbewahrt werden. Der Global Crop Diversity Trust, oder kurz "Crop Trust", unterstützt diese Saatgutbanken bei all diesen Aufgaben. Im Globalen Süden, also gerade dort, wo viele Wiegen der Entwicklung unserer heutigen Kulturpflanzen liegen, sind die Saatgutbanken oft hoffnungslos unterfinanziert und haben kein ausreichend geschultes Personal. Der Crop Trust hilft mit Geldmitteln, mit technischem Know-how und mit Schulungen. Wir bestreiten dies vor allem aus den Erträgen unseres Stiftungsvermögens. Es erfüllt mich immer wieder mit Freude zu sehen, dass wir viel Gutes und Sinnvolles bewirken können. Aber der Crop Trust ist weiter von vielen kleinen und großen Spenden abhängig, damit er seinen Auftrag vollständig erfüllen kann. Die Arche Noah des 21. Jahrhunderts ist noch lange nicht ausreichend gefüllt und noch lange nicht ganz seetauglich.
Dr. Stefan Schmitz ist Geschäftsführender Direktor des Globalen Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfalt (Crop Trust), einer unabhängigen internationalen Stiftung mit Sitz in Bonn. Zuvor war er im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) tätig.
Weitere Artikel des Autors
11/2024
Lex AfD?
10/2024
Lesezeit
9/2024
Wahlen im Osten
7/2024
Ikone des Widerstands
7/2024
Das geheime Deutschland
6/2024
Im Herzen von Rotary
6/2024
Nie wieder Müll?
5/2024
"Da gibt es sofort Theater!"
5/2024
Unsere Verantwortung
4/2024
Die Nato und wir
Mehr zum Autor