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Fake News von Fontane

Forum - Fake News von Fontane
Fontanes Schaffen als freier Schriftsteller und Romanautor begann erst in den letzten 20 Jahren seines Lebens. © Bridgeman Images

Theodor Fontane, dessen 200. Geburtstag am 30. Dezember gefeiert wird, gilt als wichtigster Autor des literarischen Realismus. Wenig bekannt ist, dass er den größten Teil seines Lebens als Journalist gearbeitet hat. Er war Theaterkritiker, Kunstkritiker, Militärberichterstatter, Reiseschriftsteller und zu guter Letzt auch Romanautor.

Walter Hömberg01.10.2019

Theodor Fontane? Der gebildete Zeitgenosse denkt, wenn er diesen Namen hört, zuerst an den Romanautor. „Frau Jenny Treibel“, „Irrungen, Wirrungen“ und „Effi Briest“ – zumindest diese Titel sind vielen noch präsent, auch deshalb, weil sie zum Kanon der Schullektüre gehör(t)en. Und die Älteren, die noch Gedichte auswendig lernen mussten, erinnern sich vielleicht an Balladen wie „Archibald Douglas“, „Die Brück’ am Tay“ und „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“.

Theodor Fontane (1819–1898), dessen 200. Geburtstag wir am 30. Dezember dieses Jahres feiern können, war schon fast 60 Jahre alt, als er seine großen Romane in Angriff nahm. Die Jahrzehnte zuvor hatte er hauptsächlich als Journalist gearbeitet. Nach einer kurzen und wechselvollen Schulkarriere begann der 16-Jährige seine Ausbildung als Apothekerlehrling, also im gleichen Beruf wie sein Vater. Neben der ungeliebten Tätigkeit als Pillendreher und Salbenmischer blieb ihm genügend Zeit zur Lektüre. Favoriten dabei waren die Autoren des Jungen Deutschland und weitere zeitgenössische Schriftsteller des Vormärz. Bald schon veröffentlichte er eigene Texte. 1839 erschien seine Novelle „Geschwisterliebe“ im Berliner Figaro, und drei Jahre später druckte das Unterhaltungsblatt Die Eisenbahn Gedichte und Feuilletons von ihm.

Während der revolutionären Barrikadenkämpfe von 1848 stand der junge Fontane aufseiten der Republikaner. Seine regierungskritische Position erläutert er in Artikeln für die Berliner Zeitungs-Halle und später für die Dresdner Zeitung. Prekäre finanzielle Verhältnisse brachten ihn dann dazu, ins sogenannte Literarische Cabinett einzutreten. Damit war er Mitarbeiter im Propaganda-Apparat der reaktionären preußischen Regierung. Er hatte sich also an die realen Machtverhältnisse angepasst – die Wende zum Konservativen war eingeleitet. Die Anstellung versprach Sicherheit und ermöglichte ihm so die Heirat mit seiner Verlobten Emilie Rouanet-Kummer. Dies war der Beginn einer fast 48 Jahre dauernden Ehe. Von den sieben Kindern sollten nur drei ihre Eltern überleben – der frühe Kindstod war damals kein ganz seltenes Familienschicksal.

Typisch auch die unsichere finanzielle Situation: Die Autoren wurden nicht mehr, wie noch ein Jahrhundert zuvor, von Mäzenen unterstützt, sondern mussten von den – meist dürftigen – Honoraren für ihre veröffentlichten Texte leben.

Das Literarische Cabinett, später umbenannt in Centralstelle für Preßangelegenheiten, war so etwas wie die Pressestelle der Regierung. Der neue Mitarbeiter musste die aktuellen Zeitungen auswerten und gelegentlich Presseaussendungen im Sinne der Regierungslinie verfassen. Da nach der März-Revolution die Präventivzensur ausgesetzt war, sollte so der staatliche Einfluss auf die Medien sichergestellt werden.

Um der bürokratischen Routine zu entfliehen, ließ sich Fontane 1852 für ein halbes Jahr nach England entsenden, in jenes Land, für das er schon auf einer Urlaubsreise während seiner Militärzeit ein besonderes Faible entwickelt hatte. Während dieser Zeit verfasste er vorwiegend Feuilletons, die als „Briefe aus London“ in der Preußischen (Adler-)Zeitung abgedruckt wurden. Die Beiträge erschienen zwei Jahre später unter dem Titel „Ein Sommer in London“ als Buch. Eine solche Mehrfachverwertung war im 19. Jahrhundert sehr verbreitet – sie verschaffte den Autoren zusätzliche öffentliche Aufmerksamkeit und weitere Einkünfte.

Nicht alle dieser Texte stammten von Fontane. Es waren auch Übernahmen aus der Londoner Times darunter. Der Korrespondent war hier nicht zimperlich. Zwar existierten damals noch keine strengen Urheberrechtsgesetze, aber Plagiate waren dennoch verpönt. Aus einem Brief Fontanes an seine Frau geht hervor, dass ihm eine Rückübersetzung ins Englische peinlich gewesen wäre. Im Übrigen war die intensive regelmäßige Zeitungslektüre für den journalistischen Autodidakten eine gute Schule: learning by reading and writing sozusagen. Die Universität des Lebens musste die lückenhafte Schulbildung kompensieren.

Zurück in London
Im September 1855 schickte die Berliner Centralstelle ihren Mitarbeiter erneut nach London, diesmal für längere Zeit. Er sollte sowohl in preußenfreundlichem Tenor für Berliner Blätter berichten als auch solche Artikel in englische Zeitungen lancieren. Diese Tätigkeit als Presseagent bedeutete einerseits hohen Arbeitsdruck, andererseits problematische Grenzgänge. Auch diesmal hat Fontane in seinen Berichten immer wieder aus britischen Zeitungen abgeschrieben, ohne seine Quellen zu nennen. In diese Zeit fallen auch erste Kontakte mit der renommierten Vossischen Zeitung, für die er feuilletonistische Beiträge lieferte.

Was den Hauptjob als Presseagent betrifft, so wandte er auch bedenkliche Methoden an: Der Herausgeber des Morning Chronicle wurde mit jährlich 2000 Talern dazu gebracht, preußenfreundliche Artikel abzudrucken. Die Journalismusforscherin Dorothee Krings konstatiert süffisant: So „konnte Fontane in seinen eigenen Artikeln für preußische Zeitungen aus dem Chronicle zitieren, was er selbst gegen Geld dort platziert hatte“.

Abwechslung vom termingesteuerten Tagesgeschäft brachte eine Reise nach Schottland, die Fontane mit seinem Freund Bernhard von Lepel im August 1858 unternahm. Reisen, das war seit Beginn des 19. Jahrhunderts für junge Schriftsteller ein geradezu existenzielles Bedürfnis. Neugier auf andere Länder und Kulturen war neben der publizistischen Verwertbarkeit der Erlebnisse und Erfahrungen ein Hauptmotiv für die Reiselust. Die oppositionellen Autoren des Vormärz hatten durch den Vergleich zwischen verschiedenen politischen und sozialen Zuständen auch indirekt Kritik an den restriktiven Verhältnissen zu Hause geübt und so Ideenschmuggel betrieben. Fontane hingegen interessierte sich mehr für die Geschichte als für die Gegenwart.

Seine Reiseberichte erschienen in mehreren deutschen Zeitungen und wurden zwei Jahre später unter dem Titel „Jenseits des Tweed“ in Buchform herausgebracht. Der Band wird bis heute immer wieder nachgedruckt und kann geschichtsbewussten und literaturbeflissenen Zeitgenossen durchaus noch als Reiseführer dienen. Edinburgh, Inverness, Culloden-Moor, Oban, Loch Lomond und Abbotsford hießen die Stationen. Die beiden Freunde bereisten sie mit Bahn und Boot, Fuhrwerk und Kutsche – teilweise auf den Spuren von Walter Scott, dessen Romane Fontane bewunderte und den er auch in späteren Gedichten noch würdigte.

Sosehr es ihn nach England gezogen hatte – letztlich fühlte er sich dort als Fremder. Anfang 1859 kehrte er nach Berlin zurück. Im Jahr darauf begann mit dem Eintritt in die Redaktion der erzkonservativen Preußischen (Kreuz-)Zeitung eine neue Phase in seinem Leben als Journalist, die ein ganzes Jahrzehnt dauern sollte. Als England-Kenner war er jetzt zuständig für den „englischen Artikel“. Das heißt, er berichtete wie ein Korrespondent über aktuelle Ereignisse in Großbritannien. Als Ortsmarke war London angegeben. Faktisch jedoch entstanden die Beiträge in der Berliner Redaktion: Fontane wertete dabei die Times aus und suggerierte den deutschen Lesern auch durch die Anreicherung mit erfundenen Szenen eine fiktive Augenzeugenschaft. Fake News auf preußisch.

Echte und unechte Korrespondenz
Der Autor fand dieses Verfahren der „unechten Korrespondenzen“, welches in der Frühzeit des redaktionellen Journalismus nicht ganz selten war, durchaus nicht als anrüchig: „Es ist damit wie mit den friderizianischen Anekdoten: die unechten sind geradeso gut wie die echten und mitunter noch ein bißchen besser. Ich bin selbst jahrelang echter und dann wieder jahrelang unechter Korrespondent gewesen und kann aus Erfahrung mitsprechen. Man nimmt seine Weisheit aus der Times oder dem Standard etc., und es bedeutet dabei wenig, ob man den Reproduktionsprozeß in Hampsted-Highgate oder in Steglitz-Friedenau vornimmt.“ Eine medien- und berufsethisch fundierte Selbstreflexion sieht anders aus. Der zeitgenössische Historiker und Publizist Heinrich Wuttke urteilt bissig: „So ward ein Geschlecht von Landsknechten der Presse gezüchtet. Eine gefälschte Schriftstellerei ist eine strömende Quelle der Verderbnis.“

Neben „unechten Korrespondenzen“ fand unser Autor noch genügend Zeit zu echten Exkursionen in die märkische Umgebung. Darüber berichtet er im eigenen Blatt und in anderen Periodika. Seine Feuilletons, eine Mischung von Geschichtsschreibung und Reisebericht, fanden große Resonanz. Unter dem Titel „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ erschienen die Reisebilder zwischen 1862 und 1882 in vier Teilen in Buchform. Fontane hat dafür nicht nur Memoiren und Chroniken ausgewertet, sondern auch bei Lehrern, Pfarrern und anderen Ortskundigen intensiv recherchiert.

Der Theaterkritiker Fontane
Gründliche Recherchen trieb er auch in einer neuen Rolle: als Kriegsberichterstatter. Die preußischen Kämpfe gegen Dänemark, gegen Österreich und gegen Frankreich (1864–1871) hat er zwar nicht vor Ort miterlebt, sozusagen im Pulverdampf, aber er hat die Kriegsschauplätze anschließend besucht und seine Beobachtungen in mehreren Artikelfolgen veröffentlicht. Die Berichte sind dann später in vier voluminösen Bänden erschienen. Diese Bücher waren kein Verkaufserfolg, bilden aber eine Brücke zum späteren Romanwerk.

Davor liegt allerdings noch eine längere Berufsphase als Theaterkritiker. Schon in seiner Londoner Zeit hatte Fontane über Aufführungen von Shakespeare-Stücken berichtet. Als die Vossische Zeitung, das angesehene Hauptstadtblatt, im Jahre 1870 einen neuen Theaterkritiker suchte, war er gleich zur Stelle. Zwei Jahrzehnte lang besuchte er dann regelmäßig den für ihn reservierten Parkettplatz 23 im Königlichen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. So entstanden insgesamt fast 700 Kritiken, von Klassikeraufführungen ebenso wie von zeitgenössischen Stücken.

Der Rezensent beginnt meist mit einer ausführlichen Inhaltsangabe, bevor er sich die Aufführung als Ganzes und die einzelnen Schauspieler vornimmt. Mit seinem häufig harschen Urteil hält er nicht zurück: „Wir haben wenige Theaterabende erlebt, an denen ein dünnerer Thee präsentirt worden wäre“, beginnt der Bericht über die Komödie „Die Sirene“, verfasst von dem heute vergessenen Salomon Hermann von Mosenthal. Auch Karl Gutzkow, dessen publizistische Texte der junge Fontane verschlungen hatte, bekommt sein Fett ab: Sein Lustspiel „Der Gefangene von Metz“ wird als „unerquickliches Machwerk von Grund aus“ abgekanzelt.

Übelmeinende Kollegen deuteten die Initialen Th. F. als Abkürzung für „Theaterfremdling“. Dabei war dieser Fontane ein aufmerksamer Beobachter und ein feinfühliger Stilist, der auch über seine Bewertungskriterien räsonierte. Sensibel hob er die Qualitäten der neuen naturalistischen Dramen hervor, die am Ende seiner Zeit als Kritiker auf die Bühne kamen. Fontanes verständnisvolle Besprechung der Uraufführung von Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“, die von Tumult begleitet war, hat Egon Erwin Kisch einige Jahrzehnte später als vorbildlichen Text in seine Anthologie „Klassischer Journalismus – Die Meisterwerke der Zeitung“ aufgenommen.

Er schrieb bis ins hohe Alter
Theodor Fontane hat nicht nur unechte Korrespondenzen verfasst, sondern als leidenschaftlicher Briefeschreiber auch eine Fülle echter Korrespondenzen hinterlassen. Was wir von seinem Leben und seiner Sicht auf die Welt wissen, das wissen wir vor allem aus den fast 6000 Briefen, die aus einer viel größeren Zahl überliefert sind. Er war bis ins hohe Alter aktiv. Zum wichtigsten Vertreter des poetischen Realismus wurde er mit seinen Gesellschaftsromanen aus dem siebten und achten Lebensjahrzehnt. Die präzise Wirklichkeitsdarstellung, die scharfe Beobachtung alltäglichen Verhaltens und gesellschaftlicher Entwicklungen, die sensible Schilderung menschlicher Stärken und Schwächen – in all dem mag man auch Einflüsse aus der früheren journalistischen Biografie sehen. Aber das ist ein weites Feld.

Walter Hömberg
Prof. Dr. Walter Hömberg, RC München, ist Kommunikationswissenschaftler und Publizist. Er war Lehrstuhlinhaber für Journalistik an den Universitäten Bamberg und Eichstätt sowie Gastprofessor an der Universität Wien. Er gibt den Almanach „Marginalistik“ heraus, von dem 2023 der zweite Band erschienen ist (Allitera Verlag München).