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Heldenhafte Arbeit in Kriegszeiten

Rotary Aktuell - Heldenhafte Arbeit in Kriegszeiten
Direkt an der Grenze kümmert sich Karin Hirsch-Gerdes um den kleinen Maxim, der mit seiner Mutter aus der Ukraine nach Polen geflohen ist. © Florian Quanz

Gut eine Woche war Florian Quanz in Polen und der Ukraine unterwegs. Er hat beeindruckende Hilfsprojekte begleitet und dabei unermüdliche Rotarier erlebt, die jede freie Minute nutzen, um Geflüchteten zu helfen und Frieden zu stiften.

Florian Quanz01.05.2022

Behutsam legt Karin Hirsch-Gerdes ihre rechte Hand auf die Brust des Jungen. Sie richtet ihn auf und horcht dabei, ob er erkältet ist. „Ich habe sofort an der Kopfhaltung des Jungen und der Art, wie die Mutter den Kinderwagen schob, gesehen, dass hier Hilfe nötig ist“, erklärt mir die Rotarierin vom Rotary Club Kamen später. Seit nun drei Tagen ist die Ergotherapeutin mit Zusatzqualifikationen für motorische Entwicklung und Wahrnehmungsentwicklung sowie Trauma-Ausbildung im polnischen Dorf Medyka, direkt an der Grenze zur Ukraine. Sie betreut ukrainische Flüchtlinge und zugleich andere Helfer vor Ort.

Erlebtes muss verarbeitet werden

Nun gilt ihre ganze Aufmerksamkeit dem kleinen Maxim, wie er sich ihr wenig später vorstellen wird. Der Junge leidet an infantiler Cerebralparese. Dabei handelt es sich um eine bleibende Störung des Haltungs- und Bewegungsapparats aufgrund einer nicht fortschreitenden Schädigung eines unreifen Gehirns. „Dabei sind obere und untere Extremitäten betroffen“, erklärt Hirsch-Gerdes. Die Hände von Maxim sind spastisch geschlossen. Der Junge kann nicht selbst greifen, um sich Nahrung in den Mund zu führen.


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Die Mutter des Jungen realisiert sofort, dass Hirsch-Gerdes helfen möchte. Mit wenigen Worten Englisch verständigen sich die Frauen. Indem die Ergotherapeutin mit der linken Hand die Schulter der Mutter streichelt und immer wieder den Blickkontakt sucht, baut sie Vertrauen auf. Ohne dieses würde die Frau niemand Fremdes an ihr Kind lassen. Auch jetzt nicht, wo sie nach der Flucht aus dem Kriegsland Ukraine völlig erschöpft und desillusioniert Polen erreicht hat.

2022, heldenhafte arbeit in kriegszeiten, ukraine
Kerstin Lüttke (v. l.) und Karin Hirsch-Gerdes haben auch Medikamente mitgebracht, die sie an der Grenze Michael Künstler und Ahmad Zubair von der Hilfsorganisation Humanity First überreichen.
© Florian Quanz

Der Skianzug, den der Junge trägt, wärmt nicht ausreichend. Das erkennt auch Kerstin Lüttke. Die Heilpraktikerin für Psychotherapie ist ebenfalls für den Dachverband für Psychotherapie vor Ort. Sie organisiert von einem Helferstand eine Trinkflasche, in die sie warmen Kakao füllt. Die Trinkflasche legt sie dem Jungen unter eine Decke, die schnell herbeigeholt wurde. Die Mutter lächelt die beiden Helferinnen an. HirschGerdes besorgt nun einen Becher Kakao mit Strohhalm, den der Junge gierig leert. „Aus einem normalen Becher kann er gar nicht trinken“, erklärt sie. Maxim sucht den Blickkontakt zu ihr. Er hat mitbekommen, dass seine Helferin aus Deutschland ist, und sagt zu ihr: „Danke schön.“ Währenddessen läuft eine Mutter mit drei Kindern von der Ukraine kommend am Kinderwagen vorbei. Sie haben nur einen Trolley und einen Rucksack bei sich.

Es sind Szenen wie diese, die mir auf der einen Seite zeigen, wie wertvoll die Arbeit von Ehrenamtlichen an der Grenze zur Ukraine ist. Momente, die aber zugleich zeigen, dass Hilfe nicht gleich alle erreicht, die sie benötigen. Darunter sind nicht nur Flüchtlinge. Auch andere Helfer müssen mal in den Arm genommen werden oder haben Redebedarf. Erlebtes muss verarbeitet werden.

Für eine Woche ist Karin Hirsch-Gerdes an der Grenze tätig, ich darf sie an zwei Tagen begleiten. Über den Rotary Club Kamen wurden Mittel für den Deutschen Dachverband für Psychotherapie besorgt und ihr Aufenthalt finanziert. In ihren Einsätzen pendelt Hirsch-Gerdes zwischen dem Grenz übergang Medyka, einer Erstaufnahmeeinrichtung in Przemyśl, der nächstgrößeren Stadt, sowie dem dortigen Bahnhof.

Hoffnung auf ein schnelles Kriegsende

In dieser Zeit müssen auch Hirsch-Gerdes und ihre Kollegin viel aushalten. Eine zitternde Frau etwa erzählt von der Erschießung ihrer Tochter und der Drohung eines russischen Soldaten, ihr werde dasselbe Schicksal bevorstehen. Aber es gibt auch schöne Momente, wie die Helferinnen erzählen. Lachende Kinder zum Beispiel, mit denen sie in der Erstaufnahmeeinrichtung Ball spielen, während deren Mütter die oft schwierige Frage klären, in welches Land sie weiterreisen wollen oder ob sie in Polen bleiben. Nicht wenige Flüchtlinge wollen nahe der Grenze leben, in der Hoffnung, dass der Krieg ein schnelles Ende findet.

Diese Hoffnung teilt Krzysztof Bork nicht. Der Past-Präsident des RC Zamość läuft zielstrebig über den prächtigen Renaissance-Marktplatz von Zamość auf ein Restaurant zu. Er ist an diesem Montagmittag mit ein paar rotarischen Freunden zum Essen verabredet und sie haben mich dazu eingeladen. Sie alle sind überzeugt, dass der Krieg noch lange andauern und die Zivilbevölkerung in der Ukraine noch viel länger Hilfe benötigen wird. Haben sie früher über ihre Begabtenförderung für junge Musiktalente geredet, sprechen sie nun über mögliche Hilfsprojekte für die Ukraine. Seit über zehn Jahren unterstützt der Club eine Schule in der ukrainischen Stadt Kolomea. Doch anstatt PCs haben sie erstmals einen ganzen Lkw mit Lebensmitteln in die Stadt geschickt, wie sie mir berichten. Hinzu kommen drei weitere Transporte mit medizinischer Ausrüstung im Wert von 50.000 Dollar, die nach Lemberg geschickt wurden – eine Gemeinschaftsaktion, an der auch die polnischen Clubs aus Posen und Wollstein beteiligt waren. „Direkt in unserer unmittelbaren Nachbarschaft spielt sich eine Tragödie ab“, sagt Clubpräsident Zbigniew Zukowski.

Als nächstes Projekt wollen sie einen Wohncontainer mit Bad speziell für behinderte Flüchtlinge anschaffen. „10.000 Euro haben wir schon zusammen“, berichtet der Präsident seinen Clubfreunden. Die gleiche Summe fehlt ihnen nun noch. Sie hoffen auf Unterstützung anderer Clubs – auch aus Deutschland und Österreich. Einen Stellplatz haben sie bereits, direkt angrenzend an ein Kinderheim, das bereits überfüllt ist. Aus ihrer Sicht der perfekte Platz.

Distrikt bietet Kleidung im Einkaufszentrum an

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Halina Bednarz, die als Freiwillige für den Distrikt im Einkaufszentrum arbeitet und den Ausweis einer Ukrainerin kontrolliert. 
© Florian Quanz

Nach dem Mittagsmeeting mit dem RC Zamość geht es für mich direkt weiter. Andrzej Górski und Wlodzimierz Bentkow ski vom anderen Club in der Stadt, dem RC Zamość Ordynacki warten bereits auf mich. Sie fahren mit mir zur Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge – eine Turnhalle, wie so oft. Dort erkundigen sie sich regelmäßig nach der derzeitigen Lage. „An manchen Tagen sind 20.000 Flüchtlinge über die Grenze nach Polen gekommen“, erklärt mir Wlodzimierz Bentkowski. Anschließend fahren wir in ein Einkaufszentrum. Auf der Fahrt erklären mir beide, dass der Club dort für den Distrikt einen Laden betreibt, in dem sich Flüchtlinge kostenlos mit Kleidung, Babynahrung und vielem Weiteren versorgen können. Vor Ort bin ich nicht nur über die Auswahl erstaunt, sondern zugleich beeindruckt von der professionellen Arbeit der Rotarier im Laden. Doch eine Frage bleibt für mich: Wie kommen all die rotarischen Hilfsgüter, die nicht in Polen benötigt werden, in die Ukraine? Eine Antwort erhoffe ich mir am folgenden Tag. Da treffe ich die ukrainische Rotarierin Mariya Mulyava.

(Fortsetzung weiter unten) 


3 Fragen an den polnischen Distrikt-Governor Wojciech Wrzecionkowski

Ist die rotarische Gemeinschaft aufgrund des Krieges in der Ukraine noch enger zusammengerückt?

Ja, auch wenn der Grund ein trauriger ist. Rotarier aus der ganzen Welt helfen uns, spenden Geld und schicken Hilfsgüter. Ich würde mir allerdings wünschen, wir hätten keinen Krieg und diese Hilfe wäre nicht notwendig. Aber in dieser schweren Zeit zeigt sich: Auf Rotary ist Verlass. Wir sind eine große Familie.

Ich habe in den vergangenen Tagen großartiges rotarisches Engagement von den polnischen Clubs an der Grenze zur Ukraine erleben dürfen. Sind Sie genauso beeindruckt?

Ja. Die Clubs leisten eine unglaubliche Arbeit. Deswegen bin ich auch vor Ort, um mir selbst ein Bild davon zu machen. Sie helfen ankommenden Flüchtlingen, sie schicken medizinisches Equipment sowie viele weitere Hilfsgüter in die Ukraine. Sie haben beste Kontakte in das Land. Es reicht ja nicht, Hilfsgüter zu sammeln. Man muss auch wissen, wohin man sie schicken kann. Die Clubs hier wissen das. Genauso wichtig ist es, zu wissen, was benötigt wird. Diesbezüglich sind die Clubs im regen Austausch mit der ukrainischen Seite. Ungefragt kam ein Transport aus Schweden mit alter Kleidung, die gar nicht gebraucht wurde. Diesen Truck haben wir wieder zurückgeschickt.

Was ist der erste Schritt für Clubs aus Deutschland oder Österreich, die helfen wollen?

Am besten zuerst unseren Koordinator für die Ukrainehilfe Ryszard Łuczyn kontaktieren. Er weiß genau, was im Moment benötigt wird. Bitte auch nicht ungefragt Busse schicken, die Flüchtlinge aufnehmen. Es stand schon einmal ein großer Bus für 50 Flüchtlinge vor unserer Tür und nur fünf Flüchtlinge sind eingestiegen.


Fortsetzung:

„Wartest du schon lange?“ Ich stutze. Gerade habe ich die Grenze von Polen zur Ukraine passiert, als mich Orest Semotiuk freudig in Empfang nimmt. Hat er gerade deutsch mit mir gesprochen, frage ich mich. „Nein, ich bin auch gerade erst angekommen. Die Grenzkontrolle auf ukrainischer Seite hat länger gedauert als erwartet“, antworte ich. Orest zeigt sich erleichtert. Er hatte sich auch etwas verspätet. Wir laufen ein paar Meter und Orest steuert einen kleinen, grauen Dacia Logan an. „Ich wusste gar nicht, dass du Deutsch sprichst“, sage ich im Gehen zu Orest. „Ich habe es in Deutschland gelernt. Ich habe einige Wochen für das Presseamt der Stadt Freiburg gearbeitet, ein Praktikum bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und beim Standard in Österreich gemacht“, erklärt er.

Deutschkenntnisse verheimlicht

Orest Semotiuk habe ich einige Wochen zuvor bei einem Zoom-Meeting kennengelernt. Mykola Stebljanko, Redakteur des ukrainischen Rotary-Magazins, hatte Redakteure anderer Rotary-Magazine eingeladen, um sich über die derzeitige Situation in der Ukraine auszutauschen. Orest berichtete damals über die Situation in Lemberg. Seitdem waren wir per Mail in Kontakt geblieben, die Konversation erfolgte stets auf Englisch. Dass Orest sehr gut deutsch spricht, hatte er mir verheimlicht. Bis jetzt.

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Nazar Drala (3. v. l.) erklärt Dmytro Symovonyk (links), Orest Semotiuk und Wolodimir Bondarenko (r.) den Inhalt der Erste-Hilfe-Taschen. © Florian Quanz

Am Auto angekommen, lerne ich seinen Namensvetter Orest Smischko kennen. Er wird an diesem Tag unser Fahrer sein. Der Weg nach Lemberg führt uns vorbei an goldenen Kirchenkuppeln, halb fertig gebauten Häusern und Anzeigetafeln mit Spendenaufrufen für die Armee. Zwei Stunden werden wir nun bis Lemberg unterwegs sein. Den weiteren Tagesablauf hat Orest für uns im Vorfeld geplant. Ich nutze die Fahrt zum Kennenlernen. Ich erfahre, dass Orest an der Technischen Universität in Lemberg Medienlinguistik unterrichtet, mittwochs keine Vorlesungen und Seminare hat und somit mein Ankunftstag auch für ihn zeitlich gut passt. Eigentlich hätte er Ende Februar seine Habilitationsschrift in Kiew verteidigen müssen. Doch der Krieg machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Auf der Gegenfahrbahn rasen plötzlich vier Krankenwagen mit Blaulicht in Richtung Polen. Sofort verfolgen meine Augen die Krankenwagen, während meine beiden Mitfahrer vorn im Auto keine Reaktion zeigen.

„300.000 Flüchtlinge aus anderen Teilen der Ukraine halten sich derzeit in Lemberg auf“, erklärt mir Orest, während wir uns weiter der Stadt nähern. „Damit haben wir die Grenze erreicht. Platz für mehr Flüchtlinge ist in Lemberg nicht.“ Wir passieren eine Panzersperre, an der mehrere Soldaten stehen. Einzelne Autos werden zur genaueren Kontrolle herausgewinkt, wir dürfen ohne Stopp weiterfahren. „Mit dem Zustrom der Flüchtlinge stieg auch der Alkoholkonsum in Lemberg. Einige Geflüchtete haben sich aufgeführt, als seien sie im Urlaub“, berichtet mir Orest. Deshalb sei der Ausschank und Verkauf von Alkohol vom Bürgermeister für einige Tage verboten worden. „Mit Erfolg?“, frage ich neugierig. „Nein. Die Menschen sind einfach ins Umland gefahren und haben sich dort Alkohol besorgt. Inzwischen ist zumindest das Verbot für Bier und Wein schon wieder aufgehoben.“

Logistische Meisterleistung

In der Stadt angekommen halten wir in einem alten Industriezentrum, was nach und nach neu hergerichtet wird. Zu Sowjetzeiten wurden hier Röhrenfernseher hergestellt. „Meine Clubfreunde sind noch nicht da, aber sie müssen jeden Moment kommen.“ Wir gönnen uns in der Wartezeit einen Kaffee und einen Snack an einer Imbissbude. Dann erhält Orest eine SMS. „Wir sollen doch zum anderen Lager außerhalb der Stadt fahren. Die Hilfslieferung ist größer als gedacht, sie laden noch aus.“ Wir gehen zum Auto und fahren wieder in die Stadt hinaus. Nach 20 Minuten erreichen wir eine riesige Lagerhalle, in der viele Menschen umherlaufen. Mittendrin James Joeriman. Der US-Amerikaner ist Präsident des RC Lviv International. Er ist im Stress. Die angekommene Hilfslieferung muss ausgeladen werden und dann möchte er noch ins andere Lager fahren. Dort will er gemeinsam mit dem heute anwesenden Distrikt-Governor Wolodimir Bondarenko ein kurzes Video drehen, in dem er dem Rotary Club Miami für die Hilfslieferung dankt. Ich möchte ein kurzes Gespräch mit ihm führen, doch er winkt ab. „Ich bin doch nur ein kleines Rädchen von vielen“, erklärt er mir. Dann weist er auch schon den nächsten Transporter in der Halle ein. Ich staune über die Mengen an Hilfsgütern, die sich hier auftürmen. An den Aufklebern auf einzelnen Kartons wird ersichtlich: Hier kommt von Clubs aus vielen verschiedenen Ländern Hilfe an. Gerade werden Pakete vom RC Warszawa-Jozefow mit Erste-Hilfe-Taschen ausgeladen und begutachtet.

Während ich die Stapel von Kartons anblicke, erklärt mir Orest das logistische Vorgehen seines Clubs: „Fast jeder Hilfstransport hat eine eigene Lagerfläche. Ist der Weitertransport dieser Hilfsgüter erledigt, kommen neue von einem anderen Transport in dieses Lager. Für jeden Transport gibt es einen anderen Zuständigen aus unserem Club. So bleibt nicht alles an einer Person hängen.“ Dieser Person wiederum würden sich dann weitere Freiwillige anschließen, sodass immer genug vor Ort seien, um das Aus- und Beladen zu bewerkstelligen, so Orest weiter. Ich drehe nun einen kurzen Film für mein Videotagebuch. Orest macht mit dem Handy ein paar Fotos. Als Zuständiger für die Öffentlichkeitsarbeit berichtet er regelmäßig über Hilfslieferungen. Fast täglich finden sich auf der Facebook-Seite des Distrikts neue Bilder.

Flüchtling öffnet die Tür

Nach der Besichtigung eines weiteren Lagers und einem Interview mit Wolodimir Bondarenko, dem Distrikt-Governor von der Ukraine und Belarus, fahren wir in die Altstadt von Lemberg. Im Appartement von Lars Vestbjerg, einem dänischen Rotarier vom RC Lviv International, darf ich übernachten. Doch die Tür öffnet uns nicht der rotarische Freund, sondern Andrij Reima. Später werde ich erfahren, dass Andrij ein Flüchtling aus einem Nachbarort von Butscha ist. Der Ort, der wie kein zweiter für die Gräueltaten des russischen Militärs steht. Andrij hat es noch rechtzeitig herausgeschafft, bevor die Russen kamen. Lars Vestbjerg hat ihn bei sich aufgenommen. „Am Anfang des Krieges hatte ich sieben Flüchtlinge bei mir im Appartement, nun ist nur noch Andrij da“, berichtet mir Vestbjerg wenig später. Sie kochen gerne zusammen, Andrij übernimmt Hausarbeiten, da er sonst beschäftigungslos wäre. Wirklich unterhalten kann ich mich nicht mit ihm, er spricht nur drei Wörter Englisch, wirkt in sich gekehrt.

Ich mache mich auf in die Altstadt. Orest hatte mir ein Lokal empfohlen, das ich nun aufsuchen werde. Kaum stehe ich vor der Tür, komme ich wieder aus dem Staunen nicht heraus. Lemberg präsentiert sich als Schmelztiegel der Kulturen und Religionen. Die Altstadt – Weltkulturerbe der Unesco – ist geprägt von Häusern aus der Zeit der K.-u.-k.-Monarchie. Es sind 17 Grad, die Menschen flanieren durch die Altstadt, Cafés und Bars sind gefüllt, ein Straßenmusiker mit Gitarre spielt Lieder der Beatles. Wären die Statuen und Denkmäler nicht mit Sandsäcken vor Einschüssen geschützt, der Krieg wäre nicht sichtbar. Ich gönne mir in der Bar „Craft und Kumpel“ ein Bier und Pliatsok, eine Art Pizza, die als galizische Spezialität angepriesen wird.

Als ich zurück im Appartement bin, sitzt Andrij im dunklen Wohnzimmer. Er spielt auf dem Handy Schach, während Lars im Büro noch arbeitet. Ich setze mich an meinen Dienstlaptop und schreibe meinen Reisetagebuch-Text. Anschließend gehe ich erschöpft ins Bett.

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Armenischer Kaffee, der auf einem Sandbett gerieben wird. © Florian Quanz

Am kommenden Vormittag nutze ich mit Orest die wenige freie Zeit für einen Spaziergang durch die Altstadt. Vom jüdischen Viertel kommend, steuern wir ein Café im armenischen Viertel an. Zum ersten Mal werde ich einen Kaffee trinken, der nach traditioneller armenischer Art zubereitet wurde. Kaum sitzen wir und nehmen den ersten Schluck, ertönt eine Sirene. Raketenalarm. Orest schaut blitzschnell nach links und rechts. Gibt es einen Schutzbunker in der Nähe? Einen Keller? Fehlanzeige. „Wir müssen sitzen bleiben“, sagt er zu mir. Ich nehme einen Schluck Kaffee und blicke zum Tresen. Gerade wählt eine Frau ein Stück Kuchen aus.

Noch ahne ich nicht, dass der Nachmittag in der Ukraine sowie die beiden folgenden Tage in Polen weitere Überraschungen für mich bereithalten werden. Ich genieße den Kaffee und das gute Gespräch. Im Kriegsland Ukraine.

Was unser Reporter nachfolgend noch erlebt hat, lesen Sie online unter rotary.de/a19941


Alexander Ostrovski (RC Dortmund-Romberg) ermöglicht musikalisch hochbegabten ukrainischen Kindern die Fortsetzung ihrer Ausbildung an der Dortmunder Phoenix-Musikakademie. Ein Gespräch mit ihm über dieses Engagement lesen Sie unter rotary.de/a19961


3 Fragen an den ukrainischen Distrikt-Governor Wolodimir Bondarenko

Hat der Krieg im eigenen Land die rotarische Arbeit grundlegend verändert?

Nein. Eine grundlegende Änderung hat es nicht gegeben, da wir uns schon vor dem Krieg der Friedensförderung verschrieben hatten und uns nun noch intensiver für Frieden einsetzen.

Wie stark ist die Unterstützung dabei von ausländischen Rotary Clubs?

Fantastisch. Schon zwei Tage nach Kriegsausbruch haben wir Unterstützungsangebote erhalten. Meine persönlichen Kontakte, die ich nutze, reichen von Neuseeland bis Brasilien. Ich möchte dabei unterstreichen, dass die Hilfe aus Deutschland und Österreich, die uns erreicht hat, sehr wichtig ist.

Wie können Clubs weiterhelfen?

Wir haben ein Komitee gebildet, das sich darum kümmert, zu ermitteln, was dringend gebraucht wird. Dabei haben wir vier Schwerpunkte herausgearbeitet: medizinische Versorgung, Hygieneartikel, medizinische Geräte und Geräte zur Energieversorgung für die Zivilbevölkerung.


­Kontaktadressen und unterstützenswerte Projekte

Anna Murawska: Deutschsprechende Koordinatorin von Hilfstransporten aus deutschsprachigen Ländern nach Polen; ein Kurzporträt lesen Sie unter rotary.de/a19955
anna@murawska.com

Ryszard Łuczyn: Koordinator der Ukrainehilfe vom polnischen Distrikt.
r.luczyn@rotary.org.pl

Wlodzimierz Bentkowski:
Ansprechpartner des RC Zamość Ordynacki
wbe7591@gmail.com

Orest Semotiuk: Ansprechpartner des RC Lviv International für Sommercamps für ukrainische Kinder nach Kriegsende. orest.semotiuk@gmail.com

Malgorzata Szymczyk: Präsidentin des RC Katowice und Mitinitiatorin von Stipendien für junge ukrainische Musiker; mehr Infos unter rotary.de/a19957
m.szymczyk@rotary.org.pl

Florian Quanz
Florian Quanz arbeitet seit März 2021 als Redakteur beim Rotary Magazin. Zuvor war er Leiter des Manteldesks sowie Politik- und Wirtschaftsredakteur bei der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen (HNA), einer großen Regionalzeitung mit Sitz in Kassel.
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