Peters Lebensart
Spitzenmenüs mit Moral gewürzt
Sie tragen bodenlange schwarze Schürzen und Hipsterbärte, betreiben angesagte Restaurants in Kopenhagen, London oder Berlin, die sich vom spätbourgeoisen Prunk des klassischen Gourmettempels losgesagt haben. Statt fragwürdiger Gänseleber oder die Umweltbilanz belastender Flughummern gibt es auf lokal
getöpferter Keramik fermentierte Stachelbeeren oder Freilandschwein aus der Uckermark. Man liebt Geschichten, dass man das Wild selbst aus dem Fell schlägt und jedes Tier „from nose to tail“ verarbeitet – aus
Respekt vor dem Lebensmittel und weil’s Mode ist. Mit der wohlkalkulierten Folge, dass sich nicht nur manche Lady angesichts Rückenspeck oder Weidelammnieren eher befremdet als beglückt fühlt. Doch was
gegessen wird, bestimmt bei dieser Gastro-Zeremonie der Koch, nicht der Gast. Die Speisekarte mit ihren Wahlmöglichkeiten, nach der französischen Revolution als Wahrzeichen des individualisierten Restaurants etabliert, wird durch einen knappen Menüzettel ersetzt. Entkommen lässt sich diesem selbst gewählten Diktat eigentlich nur, indem man Allergien vorschützt oder sich als Vegetarier deklariert.
Bäuerlich blutiges
Das hat System. Der Amerikanist Christoph Ribbat analysiert in seinem Bestseller „Im Restaurant. Eine Geschichte aus dem Bauch der Moderne“, dass in postmodernen Metropolen Authentizität als höchster Reiz wahrgenommen wird. Dazu gehört, wie im modernen Theater, wohldosierte Provokation. Die Herkunft der Speisen, das rüde Handwerkliche, ja bäuerlich Blutige wird dem Gast vor Augen geführt. Unterhaltungswert mit dem kathartischen Ziel, gedankenlos hedonistisches Schlemmen der Überflussgesellschaft durch ethische Ernährung mit gutem Gewissen zu ersetzen. Vermeidung und Verzicht, statt genussvoll aus der Fülle zu schöpfen, sind die neuen Benchmarks figurbewussten Lifestyles.
Köche, die die Speisen persönlich auftischen, sehen sich immer häufiger berufen zu belehren. Fernsehstars wie Jamie Oliver oder Tim Mälzer greifen kritikfreudig in die Ernährungsdiskussion ein. Ihr neues Selbstwertgefühl macht sie zu Zeremonienmeistern einer Moral, die das ganze Essen auf den Prüfstand stellt. Sie eignen sich quasi-
religiöse Kompetenz an: Denn das höchste Gebot der neuen Kulinar-Ethik ist Transparenz und Reinheit.
Essen gilt nicht mehr als Privatsache, sondern wird moralischen Maßstäben unterworfen. Bleibt die Frage: Gibt es in Zeiten von Rauchverboten und Übergewichtsrisiko-Kalkülen der Krankenkassen ein Recht auf unreflektierte, ja ungesunde Ernährung? Wird hier ein Freiraum durch ideologische Bevormundung eingeengt?
„Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ – zumindest in der Avantgarde-Gastronomie ist dieser Spruch aus der Dreigroschenoper hinfällig. Hier gilt eher: „Erst kommt die Moral, dann das Mahl!“
Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.
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