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Was kommt nach der Null?

Rotary Aktuell - Was kommt nach der Null?
„Tschüß Polio, danke Rotary“ – Die Botschaft ist heute aktueller denn je. Es gilt, dranzubleiben an der Ausrottung der Kinderlähmung – und darüber hinaus © WFH/Rotary International

Mit der Zertifizierung Afrikas als Polio-frei schrumpft das direkte Ansteckungsrisiko auf nur noch eine Region. Doch vor dem Erfolg stehen noch einige Hindernisse.

Matthias Schütt01.10.2020

Der Countdown der Kampagne gegen die Kinderlähmung scheint unaufhaltsam: Nachdem Ende August ganz Afrika von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) offiziell für frei von wilden Polioviren erklärt wurde, verbleibt die Grenzregion von Afghanistan und Pakistan das weltweit einzige Gebiet, in dem noch direkte Ansteckung droht. Die Zahl der in diesem Jahr registrierten Fälle liegt knapp über 100. Die Experten hoffen, auch dort innerhalb der nächsten drei Jahre die Null zu erreichen. Das Ziel der weltweiten Ausrottung (Eradikation) dieser wilden Viren wäre damit erreicht. Doch ist die Welt dann auch wirklich frei von Polio? Kann Rotary sich endlich – nach über 40 Jahren – neuen Schwerpunkten zuwenden?

Fragile Fortschritte

Wer die Polio-Berichterstattung in diesem Magazin und im END POLIO NOW-Newsletter des Rotary Verlags verfolgt, weiß, dass die Null nicht das Ende ist und das Thema uns noch länger beschäftigen wird. Denn ganz so gradlinig, wie die rotarischen Initiatoren seinerzeit meinten, verläuft der Weg zum Erfolg nicht. Über die Jahre haben sich neue Hindernisse eingestellt. Deshalb ist mit dem Sieg über die wilden Polioviren zwar der entscheidende Schritt getan, aber die Arbeit noch nicht zu Ende. Es gilt, den gewonnenen Status nachhaltig abzusichern.

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© Grafik: Rotary Verlag

Wie fragil Fortschritte auf diesem Gebiet sind, erfuhr die Weltgemeinschaft nur wenige Tage nach der WHO-Erfolgsmeldung, als aus dem Sudan – im gerade erst Polio-frei erklärten Afrika – neue Infektionen durch sogenannte impfabgeleitete Polioviren (circulating Vaccine-derived Polioviruses – cVDPV) gemeldet wurden. Diese Viren bilden sich in seltenen Fällen nach der Schluckimpfung im Verdauungstrakt des Geimpften, weil das im Impfstoff verwendete lebende Virenmaterial durch Mutation wieder infektiös werden kann. Diese cVDPV können nach der Ausscheidung über Abwasser neue Infektionen dort auslösen, wo das allgemeine Impfniveau zu niedrig ist, um die Bevölkerung zu schützen.

Kampf an zwei Fronten

Der Kampf gegen die Kinderlähmung erfolgt also an zwei Fronten: gegen wilde Viren in Afghanistan und Pakistan und gegen die impfabgeleiteten, von denen bis Ende August 303 Fälle in 15 Ländern gezählt wurden. Sie sind, so die Experten, inzwischen die eigentliche Herausforderung für die Kampagne

Die Tatsache, dass die Schluckimpfung selbst Ursache von Infektionen sein kann, zeigt die besonderen Schwierigkeiten dieser größten Gesundheitsinitiative aller Zeiten. Das war nicht abzusehen, als der kürzlich verstorbene ehemalige RI Präsident Clem Renouf 1979 auf die Idee kam, die Kinderlähmung zu bekämpfen. Da Polioviren nur von Mensch zu Mensch übertragen werden, müsste man, so die logische Annahme, nur alle Menschen impfen und hätte die unheilvolle Krankheit besiegt.

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Wenn das Abwasser – hier eine Probennahme in Mogadischu/Somalia – impfabgeleitete Viren aufweist, wird sofort mit großflächigen Impfungen reagiert ©  WHO/Ilyas Ahmed

Auf den Philippinen, wo Rotary den entsprechenden Modellversuch unternahm, hat das funktioniert: Innerhalb von nur neun Monaten wurden 90 Prozent der Kinder unter fünf Jahren geimpft, die Ansteckungsrate sank um 68 Prozent. Dieser überzeugende Erfolg war es, der die WHO dazu veranlasste, 1988 die Global Polio Eradication Initiative (GPEI) zu gründen, in die zunächst vier Organisationen ihr Know-How einbrachten: WHO, UNICEF, die US-Gesundheitsbehörde CDC sowie Rotary International. Später kamen noch zwei Schwergewichte dazu: die Bill & Melinda Gates Foundation sowie die Impfallianz GAVI. Diese sechs sind der Motor der Kampagne, mit unterschiedlichen Aufgaben: die WHO und UNICEF organisieren direkt vor Ort, Gates stellt hohe Finanzmittel bereit, Rotary stellt ehrenamtliche Impfhelfer, sammelt Spenden in Millionenhöhe und wirbt bei Politik und Wirtschaft für das Projekt.

Die letzten ungeimpften Kinder  

Diese geballte Kraft hat enorme Erfolge ermöglicht: Seit Mitte der 1980er-Jahre, als die Welt (außerhalb der westlichen Hemisphäre) mit 125 verseuchten Ländern und 350.000 Infektionen pro Jahr praktisch ein einziges großes Risikogebiet war, sank dank der Massen-Schluckimpfungen die Infektionsrate auf einen Promille-Wert. Unwegsames Gelände, als Nomaden lebende Einwohner, unsichere politische Verhältnisse und religiöse Vorbehalte erschweren den Kampf um die letzten ungeimpften Kinder in Afghanistan/Pakistan. Jede weitere vermiedene Infektion erfordert einen immer größeren Aufwand. Das ist der Grund, warum der Zeitplan immer wieder angepasst werden musste; ursprünglich sollte 2000 das Ziel erreicht sein, dann 2005 zu Rotary 100. Geburtstag. Inzwischen wird es für 2023 angekündigt.

Damit zurück zur Ausgangsfrage: Was passiert, wenn das letzte Kind geimpft ist? Wenn es – wie zuletzt in Nigeria – drei Jahre lang keine neue Ansteckung durch wilde Polioviren geben sollte, ist Rotarys feierliches Versprechen, die Welt von der Kinderlähmung zu befreien, zwar formal eingelöst. Aber ist die Welt dann auch tatsächlich frei von Polio hat?

Bereits seit einiger Zeit beschäftigen sich GPEI-Ausschüsse mit dem Problem, wie der neue Status zu sichern ist. Dazu gehört zum einen der Umgang mit Polioviren, die weiterhin für die Forschung und die Impfstoffproduktion gebraucht werden. Dazu gehört vor allem aber die Frage, was die Weltgemeinschaft dazu beitragen kann (und muss), um das allgemeine Impfniveau so zu heben, dass auch in Ländern mit schwacher medizinischer Infrastruktur jedes neugeborene Kind geschützt werden kann. Schluckimpfungen werden dann wegen des beschriebenen Risikos nicht mehr ausgegeben. Für die anschließenden Routine-Impfungen werden ausschließlich abgetötete Viren verwendet (inactivated Polio vaccine – IPV). Dieser Impfstoff ist aber wesenltich teurer, nicht immer verfügbar und stellt besondere logisitische Herausforderung: Er kann nur gespritzt werden, benötigt also statt freiwilliger Impfhelfer ein gut ausgestattetes professionelles medizinisches Umfeld. 

Schauen wir dazu auf eins der Länder, die zwar Polio-frei sind, aber zu den 15 bis 18 Ländern zählen, die die GPEI als „gefährdet“ einstuft, eben weil dort immer wieder einmal impfabgeleitete Viren auftauchen: In Äthiopien haben laut Basisdaten Gesundheit des Fischer-Weltalmanachs gerade einmal 7 Prozent der Bevölkerung Zugang zu sanitären Einrichtungen und 39 Prozent Trinkwasser zur Verfügung (Zahlen von 2015). Dass hier ein Impfniveau von 90 Prozent plus erreicht wird, erscheint illusorisch. Das aber wäre der Minimalwert, um Infektionskrankheiten wie die Kinderlähmung in Schach zu halten.

Indien als Musterbeispiel

Dass es trotz solcher Defizite funktionieren kann, zeigt das Land, das einst der schlimmste Herd auf der Polio-Weltkarte war, aber seit neun Jahren keine Infektion mehr registrieren musste: Indien. Deepak Kapur, RC Delhi South, der das nationale PolioPlus-Komitee leitet, hat erst kürzlich in diesem Magazin das Erfolgsgeheimnis verraten: „Wir haben die besonders gefährdeten Gebiete buchstäblich mit oralen Impfstoffen überflutet“ (Rotary Magazin 6/20). Ermöglicht hat das, so Kapur, der nach wie vor von praktisch allen 3000 Rotary Clubs getragene Wille, die Rückkehr der Kinderlähmung in jedem Fall zu verhindern.

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Neben Afghanistan und Pakistan sind in folgenden Ländern in diesem Jahr Infektionen durch impfabgeleitete Viren (cVDPV) aufgetreten: Äthiopien, Angola, Benin, Burkina Faso, Ghana, Guinea, Kamerun, Kongo (Demokrat. Republik), Niger, Nigeria, Somalia, Sudan, Togo, Zentralafrikanische Republik und Philippinen (Quelle: GPEI) © Grafik: free vector maps.com/Rotary Verlag

Rotary spielt dabei die Schlüsselrolle – mit einem enormen Aufwand für freiwillige Arbeitseinsätze bei Nationalen Impftagen und intensiver Öffentlichkeitsarbeit, um die Menschen zu den Impfständen zu bringen oder auch für die Routine-Impfungen in Gesundheitszentren zu werben. Noch wichtiger als dieses Hands-on aber ist advocacy, also Lobby-Arbeit. „Wir bearbeiten dazu systematisch drei Ebenen“, bestätigt Kapur im Telefon-Interview. „Gegenüber politischen Führern, Verwaltungsleuten und religiösen Führern.“ Den Durchbruch brachte die Arbeit im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh, wo starke Vorbehalte der muslimischen Einwohner zu überwinden waren. „Hier haben wir seit 2007 an 72 Orten sogenannte Rotary Ulema Komitees aufgebaut, um in dieser Bevölkerungsgruppe immer wieder für die Impfungen zu werben.“ Das indische Konzept habe zu einer nahezu 100-prozentigen Impfabdeckung aller Kinder bis zu fünf Jahren geführt. „Mit Sicherheit liegen wir über 95 Prozent“, ist Kapur überzeugt. Mit Blick auf das Nachbarland Pakistan spricht er dennoch von einer „Zeitbombe“, die auch Indien bedroht. Immerhin ist die gemeinsame Grenze 3000 Kilometer lang.

Die zentrale Rolle Rotarys bestätigt die deutsche Ärztin Sigrun Rösel, die für die WHO in Neu Delhi arbeitet und seit 1996 die Polio-Kampagne in Indien und anderen Ländern Asiens begleitet. „Wo Reichtum und Armut so eng beieinanderliegen wie hier, können sich die wohlhabenden Schichten nicht einfach abkapseln. Die Rotarier wirken mit ihrer sozialen Arbeit in den Gemeinden als Vorbilder. Und sie sind nicht zimperlich, wenn es gilt, Druck aufzubauen.“

2,1 Milliarden Dollar Spenden

Unabhängig von der Lage in Ländern mit kritischer Gesundheitsversorgung bzw. rotarischer Selbstverpflichtung wíe in Indien bleibt die Frage, was Rotary International nach der globalen Zertifizierung empfehlen wird. Werden dann weiter Spenden erbeten, um die Null abzusichern? Derzeit sind die Clubs nach wie vor aufgerufen, einen jährlichen Beitrag von 1500 US-Dollar zu spenden, um den von der Gates-Stiftung angebotenen Maximalzuschuss von 50 Millionen Dollar zu sichern. Doch diese Förderung dürfte dann auslaufen. Nach bisher 2,1 Milliarden US-Dollar von und über Rotary - dem größten Beitrag einer privaten Organisation - müsste dann auch mal was anderes kommen als der Ruf nach immer neuen Spenden. 

Tatsächlich hat die GPEI bereits begonnen, die Ausgaben für die Polio-Kampagne zurückzufahren: Das Jahresbudget sank seit 2016 um ein Drittel von 1,4 auf 0,94 Milliarden US-Dollar. Die WHO-Zentrale in Genf teilt dazu mit, dass der Rückgang parallel zu den nationalen Anstrengungen fortschreitet, Konzepte für Routineimpfungen  einzuführen, die laufende Überwachung der Polio-Situation sicherzustellen und die aufgebaute medizinische Infrastruktur so zu erhalten, dass sie für andere Aufgaben zur Verfügung steht.

Erfolg verpflichtet

In der aktuellen Coronakrise kommen wegen der weltweit unterbrochenen Impfungen zwar  neue Kosten auf die GPEI zu, die die weitere Planung zunächst verzögern. Dennoch wird der Countdown auch in der Finanzierung weitergehen - bis zur Auflösung der GPEI, wenn denn die Welt sicher von Polioviren befreit ist. Dass die Rotarier*innen weltweit ihr Hauptprojekt einfach abhaken, ist allerdings schwer vorstellbar. Es ist und bleibt unser Erfolg - und das verpflichtet.


Wissenswertes zum Welt-Polio-Tag 2020

Online dabei sein! Am Sonnabend, 24. Oktober 2020 (10 bis 12.30 Uhr), sind alle Interessierten eingeladen, an der internationalen Online-Konferenz zum Welt-Polio-Tag 2020 teilzunehmen. Schalten Sie sich virtuell hinzu, wenn Rotary mit prominenter Unterstützung von Holger Knaack (RI-Präsident 2020/21) klärt, wo alle Beteiligten im gemeinsamen Kampf gegen Polio aktuell stehen.

Warum sind die erprobten Impfkonzepte von Rotary so wichtig? Was wird weltweit für eine erfolgreiche Infrastruktur getan? Wie können wir alle helfen? Antworten auf diese und viele weitere Fragen können Sie von unterwegs oder bequem von zu Hause aus verfolgen. Neben den Veranstaltern Urs Herzog (Rotary-Polio-Verantwortlicher DE/CH/LI) und Anke Schewe (Gov. 1900) werden folgende Experten sprechen: Michel Zaffran und Oliver Rosenbauer (WHO), Hamid Jafari (CDC), Mike McGovern (Rotary), Stephen Sosler (GAVI), Melissa G. Corkum (UNICEF) und Sue Gerber (Bill und Melinda Gates Foundation).

Hinzu kommen Anne von Fallois als National Advocacy Advisor für Deutschland und Birgit Pickel vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Außerdem werden Vertreter aus Nigeria, Afghanistan und Pakistan über die Lage in ihren Ländern berichten.

Weitere Informationen zur Online-Konferenz und zum Zugangslink finden Sie hier: polio.rotary-1900.de/

Matthias Schütt

Matthias Schütt ist selbständiger Journalist und Lektor. Von 1994 bis 2008 war er Mitglied der Redaktion des Rotary Magazins, die letzten sieben Jahre als verantwortlicher Redakteur. Seither ist er rotarischer Korrespondent des Rotary Magazins und seit 2006 außerdem Distriktberichterstatter für den Distrikt 1940.