Peters Lebensart
Ab in die Pilze
Die Küche Litauens spiegelt die wechselvolle Geschichte des Landes. Es finden sich baltische, russische, deutsche und jüdische Einflüsse.
Bildungslücke: Ich war noch niemals in Litauen, niemals im Ostseehafen von Klaipėda, das einst Memel hieß, oder in Kaunas, das 2022 Europas Kulturhauptstadt sein wird. Und da litauische Restaurants hierzulande Mangelware sind, habe ich noch nie litauisch gegessen. Oder doch? Vor Jahren habe ich in Mea Sharim, dem strenggläubigen Viertel Jerusalems, das koschere Lokal „Deutsch“ (ein typisch jüdischer Name in Litauen) aufgesucht und den aschkenasischen Kartoffelauflauf „Kugel“ probiert. Da die Hauptstadt Vilnius, als sie noch zum Zarenreich gehörte, als Jerusalem des Nordens galt und der Gaon von Wilna (1720–1797) als Vordenker der Ultraorthodoxen verehrt wurde, ist litwakisches Kulturerbe bis heute in Mea Sharim prägend – in der schwarzen Tracht wie in der Küche.
Köstliche Obstkuchen
Heute wirbt der Vilnius-Tourismus wieder mit der jüdischen Vergangenheit, aber die Restaurants sind auf den Geschmack israelischer Touristen umgeschwenkt – Hummus und Bagel: Wobei die ursprünglich aus Krakau stammenden Kringel auf die jahrhundertelange Personalunion zwischen Polen und Litauen verweisen.
Kugel heißt jetzt „Kugelis“ und ist abgewandelt zum litauischen Nationalgericht „Cepelinai“ arriviert – mit Hack gefüllte Kartoffelnocken mit Sauerrahmspeckstippe. Der militärische Name rührt daher, dass im Ersten Weltkrieg im lettischen Grenzort Vain̦ ode deutsche Luftschiffe stationiert waren – die Eisenkonstruktionen der Hangars wurden in den 1930ern für die spektakulären Rigaer Markthallen recycelt.
Die Nation hat mehr zu bieten. Da ist die adlige Tradition des Großfürstentums Litauen (circa 1300–1795), die mit der polnischen Magnatenküche verschmolz, aber spätestens nach sowjetischer Nivellierung kaum noch eine Rolle spielt. Es sei denn, man besucht das Restaurant Ertlio Namas in Vilnius, das historische Rezepte modern interpretiert: Zu Wisent, Sauerampfersuppe oder Zander Radziwill kann der Gast Quittenwein aus dem Memelland oder Stachelbeerwein der Kelterei Gintaro Sino verkosten. Und erfährt nebenbei, wie armenische Händler, mittelalterliche Herrscher, eine italienische Renaissance-Herzogin, spanische Jesuiten, Paris-Exilanten, deutsche Hansekontore und russische Hegemonie die Optionen der bäuerlichen Küche erweitert haben. So betreibt dieses Restaurant kulinarisches Nation-Building, rekonstruiert die gastronomische Identität des erst seit 1990 unabhängigen Staates.
Wobei kulinarische Grenzziehungen im Baltikum und Ostseeraum fast unmöglich sind. Kaum ein Gericht, das nicht Parallelen in den Nachbarländern findet. Die Gans, auf litauische Art gefüllt mit Äpfeln und Majoran, die 1861 ein russischer Kochbuchklassiker empfiehlt, hätte eine ostpreußische Hausfrau wahrscheinlich genauso zubereitet. Piroggen und Borschtsch sind in unterschiedlicher Orthografie im gesamten polnisch-baltisch-russisch-ukrainischen Kulturraum präsent.
So bleiben neben litauischen Bezeichnungen als Charakteristika die enge Verbindung zu den „Schätzen der Natur“ und die Präsenz von Bauernmärkten und Selbsteingemachtem – vielleicht ein positives, wenn auch ungeplantes Relikt der Sowjetzeit. Litauische Genüsse heute, das sind, wie mir Kenner vorschwärmen, Pilze und ausgefallene Marinaden wie Hering in Heidelbeersaft, zart geräucherte Süßwasserfische, Roggenbrotsticks zum Knabbern und köstliche Obstkuchen. Vielleicht ist das heimliche „signature dish“ Litauens ja ganz einfach „Bubert“: Griesbrei mit kaltgerührten ganz frisch gepflückten Preiselbeeren.
Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.
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