Titelthema
Den Tod muss man feiern
Schlicht oder üppig? Der Leichenschmaus wird regional unterschiedlich interpretiert
Eigentlich verschlägt es einem beim Tod geliebter Personen ja eher den Appetit. Andererseits gibt es kaum etwas Traurigeres, als wenn jemand den allerletzten Weg unbegleitet antreten muss, wenn sich nicht Freunde und Verwandte zur gemeinsamen Gedenkfeier versammeln. Im protestantisch geprägten Norddeutschland löst man dieses Dilemma so, dass meist ein schlichter Trauerkaffee ausgerichtet wird.
Wie ganz anders sieht es im katholischen Wien aus! „A schöne Leich“, das bedeutet nicht nur prachtvolles Fiakergespann, sondern auch ein üppiger Leichenschmaus. Landgasthöfe beschreiben auf ihren Webseiten, was sich der Österreicher bei so einer Gelegenheit erwartet: Tafelspitz mit Semmelkren, Schnitzel, Schweinsbraten mit Knödeln und üppige Mehlspeisen.
Der Tod wird gefeiert. Dabei geht es nicht nur darum, ihm für einen Moment ein Schnippchen zu schlagen und durch demonstratives Schlemmen die Trauerstarre abzuschütteln. Hier schwingt bei aller postbarocken Lebenslust auch noch ein Quäntchen urchristliche Tradition mit. Wussten Sie, dass am Beginn aller christlichen Kunst gemalte Gastmahlsszenen in den Katakomben zu Ehren Verstorbener stehen? Frühchristliches Denken bejubelte den Todestag als „dies natalis“, als wahren Geburtstag, um ins ewige Leben einzugehen. Dass diese Leichenfeiern zu üppigen Gelagen ausarteten, sodass Bischöfe verboten, Weinflaschen auf Friedhöfe zu schleppen, steht auf einem anderen Blatt. Am Grab mit den Seelen der Verstorbenen zu tafeln ist ein Brauch, den unterschiedlichste Kulturen pflegen: Japan, Mexiko, bis ins 19. Jahrhundert auch die Palermitaner im Kreise ihrer mumifizierten Vorfahren.
Der Tote als Gastgeber im Jenseits: Das ist ein archäologisches Erklärungsmodell für die unzähligen Lebensmittel, die überdimensionierten Trinkgefäße und Silbergeschirre als Grabbeigaben. Es ging nicht nur um die Versorgung der Leiche, sondern auch um standesgemäßes Auftreten. Deswegen die Abertausenden von Uschebtis, von Dienerfigürchen in ägyptischen Nekropolen. Woanders konnte der Glaube an ein Weiterleben auch zu Menschenopfern führen – Witwen, Sklavinnen, Soldaten mussten mit ins Grab bei Skythen, südrussischen Warägern oder noblen Hindus.
Der Tote als Gastgeber im Diesseits: ein letzter Liebesdienst, den gerade ärmere Bauernfamilien, die sich auf Kosten anderer sattessen konnten, gerne annahmen. Die Berichte von klammen Stammgästen irischer Landpubs (die oft auch Bestattungsunternehmer waren), die darauf lauerten, wann es wieder „public viewing“ einer Leiche mit Freibier geben würde, haben etwas Rührendes. Genauso wie die beliebte Beteuerung: Die Verstorbene hätte es sicher gefreut, dass wir fröhlich zu ihrem Gedenken feiern. Ein Grundgedanke, der letzten Endes auch der mystischen Leichenfeier des christlichen Abendmahls zugrunde liegt.
Man kann sich dem Thema Tod und Essen auch aus buddhistischer Sicht nähern. Das tut der 2022 gedrehte japanische Spielfilm Zen – das Tagebuch. Ein Schriftsteller mit mönchischer Vergangenheit lebt in den Bergen mit der Urne seiner Frau. Seine Leidenschaft ist das sorgfältige Kochen von selbst gesammelten erdbehafteten Wurzeln und Trieben. Zur Höchstform läuft er auf, als er das Totenmahl für seine Schwiegermutter ausrichten muss. Die zarte Ahnung einer neuen Liebe schlägt er aus. Seine Todessehnsucht ist stärker. Als er mit Pilzen zu sprechen beginnt, wird klar: Er isst sich dem Tod entgegen, indem er eine Auslöschung und Verschmelzung seiner Individualseele mit der einverleibten Weltmaterie anstrebt.
Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.
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