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Entlarvung eines Selbstbetrugs

In seiner fulminanten Biographie Albert Speers räumt der Historiker Magnus Brechtken mit der langlebigen Legende vom „noblen Nazi“ auf.

Peter Steinbach01.09.2017

Bilder der Vergangenheit befänden sich im Kopf der Menschen, hatte der Ideenhistoriker Isaiah Berlin erklärt. Wie aber, so bleibt zu fragen, gelangen sie dorthin? Ereignisse und Erfahrungen prägen Geschichtsbilder, die den Erinnerungen der Menschen, Gruppen und Nationen völlig widersprechen dürfen. Nur dann lassen sie verdichten und tradieren – dies ist der Sinn von Gedenkfeiern, Jahrestagen, Gedenkstätten, Museen und Schulunterricht. Geschichtsbilder lassen sich nicht vorschreiben, sondern spiegeln in einer pluralistischen Gesellschaft stets die Vielfalt individueller Lebensgeschichten; sie können nicht – wie in einer Diktatur – verordnet werden.

Erinnerungen werden immer von Akteuren einer Gedenk- und Geschichtspolitik erzeugt. Besonders Autobiographien bezeugen den Wunsch, Vergangenheit zu stilisieren. Das wissen wir seit Bismarcks „Gedanke und Erinnerung“, seit Hitlers „Mein Kampf“, seit Papens „Der Wahrheit eine Gasse“. Und das gilt auch für Albert Speer, der sich mit seinen Memoiren und Tagebüchern im kollektiven Gedächtnis der Deutschen als „nobler Nazi“ stilisieren konnte. Erinnerungen schwächen sich im Laufe der Zeit ab und eröffnen dann Chancen für Korrekturen. Sie verlieren ihre kategoriale, das Lebensgefühl ganzer Altersgruppen prägende Bedeutung.

 

Die Macht der Inszenierung

Die Flut an Gedenkveranstaltungen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das allgemeine Geschichtsbewusstsein schwindet. Vielleicht wird deshalb die Bedeutung der durch Medien vermittelten Geschichtsbilder größer. So hat Steven Spielberg mit Spielfilmen wie „Schindlers Liste“ und „Der Soldat James Ryan Bilder“ das Geschichtsbewusstsein weit mehr geprägt als der Geschichtsunterricht. Auch der deutsche Filmproduzent Nico Hofmann konnte die historische Wahrnehmung verändern. Seit dem bewegenden Film „Die Flucht“, der höchste Einschaltquoten brachte, hat sich die Wahrnehmung von Flucht und Vertreibung gewandelt. Ähnliches gilt für seinen Fernsehfilm „Unsere Mütter, unsere Väter“.

Wie handelnde Akteure, Zeitzeugen  und Journalisten mitunter Mythen inszenieren, zeigt die Biographie „Albert Speer. Eine deutsche Karriere“ von Magnus Brechtken. Der stellvertretende Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte rekonstruiert in seiner Studie sowohl die Fakten aus dem Leben Speers als auch die Produktion eines die Realität verfälschenden Mythos nach dem Kriege. Seine Fallstudie ist von exemplarischer Bedeutung.

Albert Speer, allgemein bekannt als Hitlers Lieblingsarchitekt, weniger als Rüstungsminister, der Durchkämm-Aktionen initiierte und Durchhalteappelle formulierte, war keineswegs der Technokrat, als der er sich nach 1945 darzustellen wusste. Als „reisender Techniker“ verlängerte er den Krieg, forcierte Rüstungsanstrengungen und fragte nicht nach den Opfern seiner Anweisungen. Weshalb aber wurde er nicht als jemand wahrgenommen, der den Krieg verlängerte, bis sein Regime im europäischen „Höllensturz“ (Ian Kershaw) endete?

Speer verstand es, nach seiner Gefangennahme sein Leben umzuschreiben. Er sah sich als Rädchen im Getriebe des Systems; Alliierte und Deutsche glaubten ihm. Wenige Wochen nach der Kapitulation der Wehrmacht und nach der Absetzung von Hitlers Nachfolgeregierung unter Karl Dönitz gelang es Speer als dem bis dahin wichtigsten „Kriegslogistiker“ und „Frontarbeitsführer“, im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess seine Arbeit als „Zerstörungsfachmann“ und als „Architekt des totalen Krieges“ zu minimieren und die Verantwortung auf andere NS-Größen abzuwälzen, nicht selten zu deren Entsetzen. „Friedlich“, geradezu „leutselig“ erschien er bei den Verhören. Er wusste rhetorisch zu beeindrucken. Schon vor Prozessbeginn galt er amerikanischen Ermittlern als der „interessanteste aller überlebenden Naziführer“. Speer stilisierte sich als Werkzeug und Opfer des Regimes und konnte den Eindruck erwecken, mit den Verbrechen des Völkermords, der Zwangsarbeit und dem Massensterben der Kriegsgefangenen nichts zu tun gehabt zu haben. So zog er seinen Kopf aus der Schlinge – buchstäblich.

 

Eine Legende und ihr Erfolg

Nach seiner Entlassung aus dem Spandauer Kriegsverbrechergefängnis setzte er seine Selbstverleugnung fort und fand willige Helfer. Er beeindruckte weiterhin Interviewpartner und machte sie zu Komplizen seiner Selbstdeutung. Schließlich schien er sich selbst zu glauben.

Brechtken belegt, dass Speer für die Ausbeutung von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern verantwortlich war. Aber das zählte irgendwann nicht in den Talkshows, in denen er als Experte der NS-Zeit mitwirkte. Speer tischte phantastische Geschichten auf; seine ehemaligen Vertrauten und Mitarbeiter wirkten als seine Multiplikatoren.

Viele Zeitgenossen nahmen Speer seine „Entlastungserzählungen“, nicht zuletzt, weil sie so die eigene Erklärungsnot mildern konnten. Speer behauptete sogar, im Februar 1945 ein Attentat auf Hitler vorbereitet oder die Verhaftung der gesamten NS-Führung geplant zu haben. Widerlegen konnte das Gericht dies nicht – zum Nutzen von Speer, der sogar erklärte, sich angesichts der NS-Verbrechen zu schämen. Vermutlich glaubte Speer sich irgendwann selbst. Er war ein Pseudologe, der Unwahrheit und Wahrheit nicht mehr auseinanderhalten konnte. Realität in Meinungen aufzulesen, diese Taktik hatte Hannah Arendt bei ihrer ersten Deutschlandbegegnung nach dem Krieg als einen Grundzug deutscher Selbstentlastung ausgemacht. Mit den großen NS-Strafverfahren wurde in den sechziger Jahren, als Speer entlassen wurde, das ganze Ausmaß der Verbrechen an Juden und Zwangsarbeitern zweifelsfrei bekannt.

 

„Glück des Betrügens“

Im Spandauer Gefängnis hatte Speer konsequent die Stilisierung seiner Lebensgeschichte fortgesetzt. Er legte Wert darauf, sich nicht mit seinen Mitgefangenen gemein zu machen. Ein Helferkreis sammelte Spenden für seine Familie, bildete ein Netzwerk zu seiner Unterstützung und befeuerte die Kampagnen, die seine vorzeitige Entlassung forderten. Die Aufmerksamkeit der Presse ließ in den fünfziger Jahren nie nach. Zum Bestseller wurden seine Erinnerungen an denen er, unterstützt vom Propyläen-Verlag mit 1000 DM, unverzüglich zu arbeiten begann. Zu Speers wichtigsten Helfern wurden der Verleger Wolf Jobst Siedler und der Publizist Joachim C. Fest. Dessen Hitler-Biographie war ein noch größerer Erfolg als die Bücher Speers, waren aber, wie Brechtken zeigt, ganz deutlich durch Speers zelebrierte Autorität als Zeitzeuge geprägt. Sie erlebten viele Auflagen und wurden ein gutes Geschäft für Verlag und Verfasser.

Von den Historikern aber wurde seine Darstellung nicht kritisch geprüft. Im Gegenteil, Speer emanzipierte sich zum Fachmann für das NS-Regime. Einige Nachwuchswissenschaftler versuchten sich an Revisionen. Sie wurden von den Meinungsführern der Speer-Rezeption verspottet. Speer genoss seine Prominenz, die sich allein seiner rhetorischen Fähigkeit bei der Verdunkelung seines Lebens verdankte. Brechtken spricht deshalb vom „Glück des Betrügens“.

Unbestreitbar ist, dass Speer ohne Hilfe seines Verlegers Siedler und seines schriftstellerischen Helfers Fest keine Chance gehabt hätte, in den sechziger und siebziger Jahre eine Rolle zu spielen, die ermöglichte, die Realität der Endkriegsmonate mit fliegenden Standgerichten, Todesmärschen der Häftlinge und der Bereitschaft, den Untergang des deutschen Volkes weichzuzeichnen. Ebenso wichtig ist die Frage nach der Korrektivfunktion der kritischen Geschichtswissenschaft. Fest kritisierte Historiker, weil sie angeblich nicht schreiben könnten, fast ohne dass er Widerspruch fand. Unbestreitbar ist: Die meisten  Zeithistoriker verzichteten auf die Überprüfung von Speers Selbststilisierung. Das Lesepublikum blieb so Jahrzehnte befangen in seinen Lebenslügen; auch, weil Siedler und Fest in der historischen Zunft als Autoritäten galten.

Dank Magnus Brechtken schrumpft Albert Speer nun auf ein Normalmaß. Er stellte sich als Technokrat, als Manager, als genialer Architekt dar. Aber er war Täter vor 1945 und danach rechtfertigte er sich durch Selbstbetrug – wie viele seiner Zeitgenossen, die vielleicht deshalb seine Bücher so gern gelesen hatten, weil sie mit Speers Schriften auch sich selbst ein Stück entlastet fühlen wollten.

 


 

foto: Siedler Verlag

Tipp

Magnus Brechtken:

Albert Speer. Eine deutsche Karriere

Siedler Verlag, 910 S., 40,00 €.

 

 

 

 

 

 

Peter Steinbach
Peter Steinbach (RC Baden-Baden) ist Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin und Professor für neuere und neuste Geschichte an der Universität Mannheim. Zu seinen Büchern zählen u. a. "Der 20. Juli 1944" (Siedler 2004) und "Franz Schnabel. Der Historiker des freiheitlichen Verfassungsstaates" (Lukas 2010) www.gdw-berlin.de