Buch des Monats
Einladung zur Verunsicherung
Anhand von 100 Objekten und in 100 Essays macht der Historiker und Ex-Museumsleiter Hermann Schäfer (RC Bonn Süd-Bad Godesberg) deutsche Nationalgeschichte begreifbar – ohne Überheblichkeit, aber auch ohne Unterwürfigkeit.
Nation lässt sich nicht einfach erfinden, aber vielleicht auf vielfältige Weise erklären: als Kultur- und Sprach-, als Schuld- und Verantwortungs-, aber eben auch als Geschichtsgemeinschaft. Dabei zeigt sich: Für eine Wertordnung kann man sich entscheiden. Historische Kenntnisse hingegen fliegen keinem zu, sie müssen erarbeitet werden und fügen sich dann zu einem Bild der Vergangenheit, aus dem auch Gemeinsamkeit durch reflektierte Erfahrungen entstehen kann.
Dem Ziel dient das hervorragend ausgestattete und glänzend geschriebene Buch von Hermann Schäfer, einst Präsident des Bonner Hauses der Geschichte. Wie anregend Geschichte sein kann, zeigt er, indem er deutsche Geschichte in 100 Objekten anschaulich macht.
Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als Fundament des gesellschaftlichen Miteinanders zu begreifen ist nicht unumstritten. Vielleicht auch deswegen, weil es nicht nur um Kenntnisse, sondern immer auch um Zusammenhalt, um Identität und gemeinsame Werte geht. Gedenkstätten und Museen sollten als außerschulische Lernorte manche Defizite ausgleichen.
Ein im Rückblick geradezu unglaublicher Erfolg war dabei den in den 80er Jahren gegründeten historischen Museen in Bonn und Berlin beschieden. Besonders erfolgreich wurde das Bonner Haus der Geschichte, das unter Schäfers Ägide zur führenden Instanz in der deutschen Ausstellungs- und Museumskultur wurde und neben der historischen Bildung auch die Integration der Gesellschaft förderte.
Nun hat der Gründungsdirektor mit einem der schönsten Bücher des Jahres ein neues Meisterstück geliefert. 100 Objekte sind der Anlass für 100 meisterhafte Essays, die vom „aufrechten Gang“ des Homo erectus bis zu der Aussage „Jeder ist ein Fremder – fast überall“ ein Bild deutscher Geschichte zeichnen, das nicht indoktriniert, sondern einlädt, nachzudenken, sich überraschen und verunsichern zu lassen.
Schäfer entgeht der Gefahr der trockenen Sachbeschreibung, weil er die Objekte als Einstieg nutzt, um Geschichte zu erzählen, Zusammenhänge darzustellen, Lebensformen, Weltsicht und Weltverständnis zu beschreiben. Er referiert keine Ereignisse, sondern entfaltet einen Kosmos, der um die deutsche Vergangenheit kreist.Hinzu kommen Ordnungsprobleme, Glaubensverhältnisse, Katastrophen, immer aber auch die Auswirkungen von Veränderungen für die Lebensverhältnisse. Die Entstehung des Handels, der Städte, die Wandlungen der Kriegsführung, die Wirkung von Philosophie, Literatur und Dichtung zeigen Schäfers große Kompetenz als Wirtschafts-, Sozial- und Kulturhistoriker.
Ihm geht es um historische Bildung, um Bewusstmachung. So spiegelt jede Objektdeutung stets Allgemeines. Neben den „weißen“ stehen die „schwarzen“ Traditionsstränge deutscher Geschichte und verbinden sich zu einer Nationalgeschichte ohne Überheblichkeit, aber auch ohne Unterwürfigkeit. Gratulation.
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