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Aufarbeitung der Vergangenheit

Richtig erinnern, aber wie?

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs löst die Diskussion um einen angemessenen Umgang mit der Vergangenheit immer wieder heftige Debatten aus.

Peter Steinbach01.03.2017

Die Rückkehr der Deutschen in den Kreis der zivilisierten Natio­nen nach 1945 hatte eine wichtige Voraussetzung: sich der jüngeren, schmerzlichen Vergangenheit zu stellen. Das bedeutete nicht, sich leichthin für die Makroverbrechen der NS-Zeit zu entschuldigen. Sondern es kam darauf an, die Realität dieser Verbrechen, ihre Vorbereitung, ideologische Rechtfertigung etc. kritisch zu sehen, sie als Hypothek anzuerkennen und in der nachträglichen Bewusstmachung als Auftrag zu einer „huma­nen Orientierung“ zu akzeptieren.

In letzter Zeit entsteht der Eindruck, dass diese Fundierung einer wertorientier­ten Grundhaltung unserer Gesellschaft aus zeitgeschichtlichem Bewusstsein heraus infrage gestellt wird; zum Beispiel, wenn eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ gefordert wird. Dabei war die Aufarbeitung der Vergangenheit niemals unumstritten. Sie war und ist ein Prozess, in dessen Verlauf deutsche Verbrechen ebenso diskutiert wurden wie die an Deutschen begangenen Verbrechen. Die Schwerpunkte lagen mal auf der einen Seite, mal auf der anderen.

Unstrittig war und ist ebenso, dass es eine endgültige Bewältigung der Vergangenheit oder gar einen Schlussstrich nicht geben kann. Nicht zuletzt, weil sich jede Generation aufs Neue fragen muss, welche Lehren aus der jüngeren Geschichte sie ziehen will.

Verschiedene Leidenserfahrungen
Eine große Herausforderung bei der Aufarbeitung der Vergangenheit war die Vielzahl an Opfergruppen der national­sozialistischen Herrschaft und des von ihr entfachten Krieges. Mit der Wahrnehmung ganz unterschiedlicher Leidenserfahrungen tat sich die Gesellschaft ohne Zweifel in den vergangenen Jahrzehnten oft sehr schwer; schwerer, als es die Rituale des Gedenkens nahezulegen scheinen. Die Sprecher einer jeden Verfolgtengruppe neigten dazu, ihr Leid zu verabsolutieren und zu hierarchisieren. Exklusivitätsan­sprüche wurden selten zurückgewiesen, sondern vielfach sogar als Voraussetzung für die Herausbildung von Gruppenidentitäten akzeptiert.

Wer hingegen Leidenssituationen verglich, setzte sich schnell dem Vorwurf der Relativierung aus; selbst dann, wenn er nur den Blick auf exemplarische Lebenssituationen lenken wollte. Dabei ist das Leid des einzelnen gar nicht relativierbar. Es steht für sich, so wie das Individuum und seine Würde gerade in der Auseinandersetzung mit dem NS-Staat zum Zentrum des postdiktatorischen, des „freiheitlichen Verfassungsstaates“ geworden ist.

Warum tun wir uns so schwer dabei, uns bewusst zu machen, dass das Elend des Menschen in der Mitte des 20. Jahrhunderts, eines Jahrhunderts der Diktaturen, auf ganz vielfältige Weise kulminierte? Dieses Elend kann durch die Zerstörung Europas, durch die Spaltung des Kontinents, durch die Ent­hausung und Preisgabe vieler Millio­nen Menschen charakterisiert werden.

Natürlich stehen all diese Ereignisse im Schatten eines ganz anderen Ereignisses, das wir mit dem Begriff „Auschwitz“ bezeichnen. Aber sie gehen in diesem Ereignis nicht auf. So gesehen stehen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts Täter neben Opfern, Verantwortliche neben Mitläufern und Gehorsamen, Angepasste neben Widerständigen. Mehr noch: Täter konnten im Laufe der Zeit zu Opfern werden und Opfer zu Tätern, aus Mitläufern wurden zuweilen Widerständige, und die Ver­antwortlichen flüchteten sich vielfach in Beteuerungen ihrer Verantwortungslosigkeit. Nicht zuletzt wurden die Gehorsamen, die Befehlsempfänger, oftmals zu Verantwortlichen.

Auch Lebensgeschichten fächern sich breit auf, nach Schichten und politischen Traditionen, nach Konfessionen und Regionen, nach Entwicklungen und Ereignissen, die immer wieder die Struktur der deutschen Gesellschaft verändert haben. Zwei Weltkriege, zwei Niederlagen, zwei Geldentwertungen, Vertreibungen vor und nach 1945, Abtretungen von Landesteilen und Teilungen, schließlich die Spaltung der Nation und ihre keineswegs komplikationslose Vereinigung haben viele Anlässe für eine breite lebensgeschichtliche Erinnerung geschaffen. Es ist einfach nicht zu bestreiten, dass viele Deutsche 1933 die Herrschaft Hitlers begrüßten und manche von ihnen schon wenig später diese Haltung bedauerten. Andere standen nach mehr als zehn Jahren entsetzt vor den Fol­gen ihrer Illusionen und wurden nun zu Getriebenen, zu Opfern, zu Leidenden. Nur wenn wir im Gedenken auch diese Opfer bewusst machen – ohne demons­tratives Selbstmitleid, aber durchaus bewusst im Schmerz über das Verlorene – nur dann werden wir die Grundlagen des Gedenkens sichern.

Peter Steinbach
Peter Steinbach (RC Baden-Baden) ist Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin und Professor für neuere und neuste Geschichte an der Universität Mannheim. Zu seinen Büchern zählen u. a. "Der 20. Juli 1944" (Siedler 2004) und "Franz Schnabel. Der Historiker des freiheitlichen Verfassungsstaates" (Lukas 2010) www.gdw-berlin.de