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Peters Lebensart

Kleine Kirschenkunde

Peters Lebensart - Kleine Kirschenkunde
© Jessine Hein/llustratoren

Vorsicht, liebe Nachbarn mit Kirschbaum: Im Juni startet die Erntesaison – und nicht nur Stare warten schon sehnsüchtig auf die rot leuchtenden Fruchtkugeln.

Peter Peter01.06.2021

Der Deutschen liebste Kirsche? Das könnte Mon Chéri sein, die Piemontkirsche in der Alkoholpraline. Ein bisschen Anteil haben wir auch daran, denn so viele Kirschen wachsen im Piemont, der Region der Trauben und Haselnüsse, nicht, um die gigantische Nachfrage zu befriedigen.

Deswegen veredelt Ferrero auch Früchte aus der Ortenau. Diese Landschaft an den Hängen des Nordschwarzwaldes gilt als deutsches Kirschendorado, seit Kardinal Rohan, Fürstbischof von Straßburg, im 18. Jahrhundert das Anpflanzen von Kirschbäumen förderte. Hier gibt es auch die höchste Dichte an Hausbrennereien, wie Siegbert Feißt erklärt, der in seinem Hof in Achern schon einmal zuschauen läßt, wie er Kirschwasser destilliert. Grundessenz für einen weiteren Welterfolg: Schwarzwälder Kirschtorte.

Überhaupt spielen Kirschen mit ihrem säuerlichen Grundton eine wichtige Rolle in der Patisserie, von im Luxusfall mit Wildkirsch aromatisierter Zuger Kirschtorte bis zur rot glänzenden Holländischen Kirschschnitte. Als Windbeutelfüllung oder kandiert als Deko von glasierten Petits Fours. Frisch gepflückte Ortenau-Kirschen werden von Hausfrauen oder im eleganten Café Gmeiner in Baden-Baden in Kirschplotzer verbacken – unbedingt unentkernt wie beim französischen „clafoutis“, um das feine Mandelaroma herauszuschmecken. Nebeneffekt: Man spart sich das mühselige Entsteinen.

Von Knupper bis Schwarze Jorker Späte

Nicht mit jedem lässt sich gut Kirschen essen, das ist eine Sache des Vertrauens: Schon immer galten die delikaten Früchte als edel und begehrenswert, wie holländische Stillleben und die Vorliebe des römischen Gourmets Lucullus beweisen. Die Erntezeit ist kurz, die Lagerzeit kürzer. Man muss sie frisch verzehren oder zu Kompott, Grütze oder köstlicher Latwerge verarbeiten, wie sie heute noch im ostungarischen Dorf Tarpa eingeköchelt wird. Russen verwenden auch die Blätter: als Tee oder um Gurken damit einzulegen.

Der Kirschenkosmos ist weit: Weichseln, Herzkirschen und knorpelige brandenburgische Knupperkirschen. Schwarze Jorker Späte aus dem Alten Land oder die gelben Hartkirschen, die man am ehesten in Frankreich unter den Namen „bigarreau“ oder „cerise Napoléon“ findet. In alkoholfreien türkischen Tavernen serviert man „visne suyu“ – Sauerkirschsaft. Auf den Märkten von Rijeka und Split bekommt man die kleine herbe dunkelrote Sorte „maraska“, aus der dalmatinischer Maraschino-Likör gewonnen wird. Und der burgenländische Operettenfestspielort Mörbisch trägt passenderweise einen magyarischen Namen: „meggyes“ ist ungarisch für Kirsche.

Keine schmeckt allerdings so gut wie die, die man selbst pflückt. Jetzt ist – auch für pickende Stare – „le temps des cerises“, Erntezeit für baumfrische Kirschen, die sich rot leuchtend unter dunkelgrünen Blättern vom anthrazit-silbrig glänzenden Holz abheben. Und für uralte Vergnügungen, die wieder aktuell sind: Im Juli ist in den USA „cherry pit spitting day“, auf der Dürener Anna-Kirmes wird sogar eine Weltmeisterschaft im Kirschkernweitspucken ausgetragen. Oder ein Selfie mit Kirschohrgehänge? Dürfte ich, man entschuldige die Anmaßung, die Bibel umschreiben, ich würde Eva keinen Apfel, sondern Kirschen der Verführung in die Hand geben.

Die Steinfrüchte sind ein Eyecatcher, ob im Cocktailglas, ob als Amarena auf dem Gelato-Pokal. Oder im Frühling, wenn in Japan Sakura gefeiert wird – eine ganze Nation ist vernarrt in das Naturschauspiel der Kirschblüte und picknickt beim Hanami-Fest unter errötenden Bäumen. Ein kurzer, ein poetischer Genuss. Denn Japans Zierkirschen blühen nur fürs Auge und tragen keine essbaren Früchte.

Peter Peter

Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.

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