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Peters Lebensart

Most modern

Peters Lebensart - Most modern
© Jessine Hein/Illustratoren

Die Premiumverarbeitung naturreiner alter Obstsorten sorgt für regionale und geschmacksintensive Vielfalt – mit und ohne Alkohol.

Peter Peter01.09.2022

Ein Gläschen Sekt von der Champagnerbratbirne? Die alte Sorte, die auf der Schwäbischen Alb reift, entging dem Paragrafen im Friedensvertrag von Versailles, der seit 1919 verbietet, deutschen Schaumwein aus Trauben (!) Champagner zu nennen. Die köstliche Rarität klingt nicht nur teuer, sie ist es auch. Ein Fläschchen von der Manufaktur Jörg Geiger liegt auch in der alkoholfreien Version preislich im unteren bis mittleren Champagnersegment. Saftbegleitung beziehungsweise Pairing von Edelmosten und Fine Dining ist ein wachsender Sektor. Das hängt nicht nur an der Alkoholskepsis gesundheitsbewusster Detox-Gäste, sondern auch daran, dass Mostereien vom Weinbau gelernt haben. Es klingt banal, aber wie man Riesling oder Weißburgunder meist getrennt ausbaut, so eröffnet die früher kaum übliche Pressung sortenreiner Säfte neue Aromen-Welten. Nicht umsonst empfiehlt ein Shootingstar wie Thomas Kohl dazu hauchdünne mundgeblasene Stielgläser. Der Südtiroler vermostet oberhalb Bozens handgepflückte „Bergäpfel“, die auf 1000 Meter Seehöhe reifen. Mit geschmacksintensiven alten Sorten wie Gravensteiner, Wintercalville oder Ananasrenette hebt er sich vom Einerlei heimischer Obstindustrie ab.

Dass Apfel nicht gleich Apfel, Birne nicht gleich Birne ist und dass die glattpolierteste Oberfläche eher Negatives über das Aromen-Spiel der Frucht aussagt, wird zunehmend thematisiert. Im Premium-Sektor hat heimischer Obstsaft das brave Pfandflaschenimage abgelegt und an regionaler Exklusivität all die Orangennektare aus der Tüte, die ungefragt deutsche Frühstücksbuffets bereichern, hinter sich gelassen. Ein Pionier wie der Obsthof am Steinberg im Frankfurter Vorort Nieder-Erlenbach verschreibt sich der Pflege des pomologischen Erbes und bringt gerade dadurch frischen Wind in die hessische Äppelwoi-Szene. Bei Familie Schneider kann man unter Obstbäumen Stöffche aus einem Dutzend historischer Sorten wie Heuchelheimer Schneeapfel, Graurenette oder Roter Metternich probieren: ein sensorisches Erlebnis! Wer es alkoholfrei mag, schlürft Quittenapfelsaft aus dem Noppenglas.

Eine Vorreiterrolle hat auch Oberösterreich und das Mostviertel gespielt. In der Heimat der „Mostschädel“, wo man Apfelwein gern als „oberösterreichische Landessäure“ verspottete, setzen Tourismuskonzepte erfolgreich auf einen Imagewandel vom Billig- zum Biogetränk. Apfel- und Birnenalleen, die Kaiser Joseph II. vor über 200 Jahren pflanzen ließ, führen zu Mostheurigen, wo Schmankerln wie Mostrinderbraten und im Winter Glühmost angeboten werden. Durch professionelle Versektung und sorgfältige Sortierung des Leseguts gelingt es, muffige oder faulige Noten des vergorenen Obsts zu vermeiden. Auch hier propagiert man historische Sorten wie Speckbirne oder Brünnerlingapfel. Most-Sommeliers können auf eine Angebotsbreite zurückgreifen, die abwechslungsreicher wirkt als die beliebten bretonischen Cidres und Poirés.

Es muss nicht immer Gourmet sein. Most hat als günstiger Trunk nie einen so elitären Nimbus aufgebaut wie manche Weine. Ein einfacher Direktsaft in einem Mosthock am Bodensee oder ein Zug durch Sachsenhausener Äppelwoi-Kneipen vermitteln authentische Erlebnisse volkstümlicher Gastlichkeit. Aber Produzenten, die trotzig nach Qualitätsnischen suchten, ist, da kleine Hochstammfrüchte aromatischer schmecken, der Erhalt wichtiger Biotope in unserer industrialisierten Landwirtschaft zu verdanken. Ein Beispiel: der rheinische „Saftladen“ Van Nahmen begann seinen Aufstieg damit, dass er – damals innovativ – 1994 naturreinen Streuobst-Apfelsaft auf den Markt brachte.

Peter Peter

Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.

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