Zur Rolle der Medien im Falle Wulff
Meinungsfreiheit, die ich meine
Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen. Was er tut, das tut er besonders gern in der Gesellschaft anderer.
Zum Beispiel das Jagen. Man muss schon ein ziemlich guter Waidmann sein, um nächtelang allein auf einem kalten Hochsitz auszuharren und seine Beute zu erspähen.
Aber wenn es darum geht, eine Sau durchs Dorf zu jagen, kann jeder mitmachen, ob Oberförster oder Schusterlehrling. Jüngstes Beispiel: Die quälende Debatte um Bundespräsident (a.D.) Christian Wulff. Wochenlang gab es kaum ein anderes Thema, das die Republik so in Atem hielt: Wulffs Hauskredite, Wulffs Reisen, Wulffs Anrufe und Wulffs Ausflüchte.
Keine Vorabendserie hatte eine so hohe Einschaltquote wie die Seifenoper um Schloss Bellevue, und das lag nicht allein am unglücklichen Lavieren des Amtsinhabers, der sich schon bald von Verfolgern umzingelt sah. Es lag auch an den zahlreichen Kommentatoren, die sich eifrig an der Großwildjagd beteiligten.
Ich will den Vergleich nicht überstrapazieren, schon um die vielzitierte „Würde des Amtes“ nicht zu beschädigen, auf die sich sowohl Wulff als auch seine Kritiker immer wieder beriefen, ohne zu erklären, worin diese Würde eigentlich besteht. Wenn etwas durch das mediale Präsidenten-Halali beschädigt wurde, dann nicht das Amt, sondern das Niveau der bundesdeutschen Öffentlichkeit.
Journalisten, die Fakten recherchieren und Verfehlungen aufdecken, tun ihre Arbeit. Aber das Tempo der Nachrichtenproduktion ist so rapide gestiegen, dass auf der Jagd nach Neuigkeiten die Fakten den Meinungen oft nicht mehr hinterherkommen. Im Sog des Aktualitätsdrucks werden selbst Trivialitäten zu Schlagzeilen: Mein Dorf, meine Sau, mein Thema.
Das bekam auch Joachim Gauck schon zu spüren. Früher galt eine Schonfrist von 100 Tagen für neue Amtsinhaber. Der einstige Wunschkandidat hingegen war kaum gekürt worden, da entlarvten ihn eifrige Kommentatoren schon als vermeintlichen „Holocaust-Verharmloser“, „gefühlskalten Neoliberalen“ und „weltfremden Prediger“. Gauck selbst hat 2006 in einer Rede die Erfahrung des Wirklichkeitsverlusts in der DDR geschildert: „Ich habe zu lange erlebt, dass in der Erziehung ganzer Generationen die Rolle der Fakten und Realität nachrangig war“. Der Verlust der Wirklichkeit führe dazu, dass an die Stelle der Würde und Bedeutung der Fakten die Rolle von Meinungen trete.
Ein Vorschlag für alle Leitartikler und Internet-Kommentatoren: Wenn dieser Zwischenruf erscheint, beginnt Joachim Gaucks Amtszeit gerade erst. Lassen wir also einfach mal die Sau im Stall und die Kirche im Dorf und hören uns an, was der neue Präsident uns zu sagen hat. Eine Meinung darf man immer haben, aber man muss nicht.
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