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Rotary Tag 2015 in Augsburg

»Die Bio-Deutschen werden weniger«

„Migration ist Realität – Integration unsere Aufgabe“ lautete das Motto des 6. Rotary Tag am Wochenende auf dem Gelände der Augsburger Universität

Frauke Eichenauer26.02.2015

350 Teilnehmer aus allen deutschsprachigen Distrikten – das war eine schöne Belohnung für die monatelangen Vorbereitungen des Organisationteams vom ausrichtenden Distrikt 1841 um Heike Zeller (Gov.), Paul Waning (Gov. elect 2015/16) sowie Harald Bos (PDG). Die Liste der eingeladenen Referenten hatte ein interessantes Wochenende versprochen – und hielt es ein.

Prominentester Gast war Claudia Roth, Vizepräsidentin des Bundestags, die das Auditorium als Grüne-Politikerin mit ihrem Begriff des "Bio-Deutschen" erheiterte. Bezogen auf die hohe Migranten-Quote der Einwohner Augsburgs mit 44 Prozent sagte Roth: "Ohne die Migranten würde die Einwohnerschaft Augsburg schrumpfen, denn die 'Bio-Deutschen' werden immer weniger. In der Tat sind die Biografien der Augsburger  – und nicht nur dort – immer weniger deutschstämmig, in Augsburg leben mittlerweile Menschen aus 176 Staaten. Sehr zur Freude von Fußballfan Claudia Roth hat der FC Augsburg die höchste Multikultiquote der Bundesliga, insgesamt 15 Spieler kommen aus unterschiedlichen Nationen. In ihrem Vortrag über Multikulti als Zukunftsmodell betonte sie die Bedeutung des Grundgesetzes, Artikel 1. "Die Würde des Menschen ist unantastbar – das muß der moralische Imperativ für unsere Gesellschaft sein." Auch solle der Begriff "Heimat" anders definiert werden, denn es sei ein sehr ausgrenzender Begriff. Roth: "Heimat ist, wo du gebraucht wirst, wo du dazugehörst" und plädierte in diesem Zusammenhang für mehr Offenheit in Bierzelten, Schützenvereinen, Gerichten, Redaktionen u.s.w. Sehr emotional setzte sie sich für die Anerkennung "biografischer Realitäten" ein und forderte: "Kein Mensch soll bei uns wegen seines Nachnamens Angst haben müssen".

Als einen der ersten Programmpunkte hatte Cathie Mullen (RC Augsburg-Renaissancestadt), langjährige Leiterin der dortigen Internationalen Schule, das Auditorium mit einer kleinen Aufführung ihrer Schüler auf das Thema Flüchtlinge eingestimmt: Die Kinder machten deutlich, wie schwer es ist, seine Heimat zurückzulassen und veranlassten nicht wenige Zuschauer zum verstohlenen Griff nach dem Taschentuch. Auch RI-Direktor Holger Knaack war gerührt und sagte: "Wir dürfen bei negativem Stammtischgerede über Migranten und Flüchtlinge nicht einfach weghören, sondern müssen aktiv werden und Stellung beziehen."  Sein Wunsch: Aus diesen beiden Tagen Ideen mitzunehmen, in die Clubs zu tragen um dann mit den Freunden tätig zu werden – vor der Haustür und auch in anderen Ländern. Jedes Projekt, was in Krisengebieten unternommen wird, hilft, dass die Menschen dort bleiben können und macht die Welt insgesamt ein bißchen besser. Also: "Take action!"

"Da jeder Mensch eine Meinung auch ohne Fakten hat", so die Moderatoren Harald Bos und Paul Waning, war Franziska Woellert vom Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung dazu eingeladen worden, einige Statistiken zum Thema „Über wen oder was reden wir überhaupt?“ zu präsentieren. Ihre Charts brachten dann auch einiges Licht in dunkles Halbwissen, hier ein paar erhellende Beispiele:

• Zweidrittel der nach Deutschland strömenden Menschen sind EU Binnenwanderer – auf der Pole Position stehen die Polen, demnächst aber wohl abgelöst von Rumänen. Danach die Zuwanderer aus südeuropäischen Krisenregionen wie Spanien, Griechenland, Portugal.

• Mehr Türken verlassen Deutschland, als neu ankommen

• Die  Zusammensetzung der Bevölkerung in Deutschland derzeit: 80,7 Einheimische (= beide Eltern haben deutschen Pass), 10,6 Prozent Migranten und 8,7 Ausländer (Census 2010)

• Die Gruppe der Migranten und Ausländer besteht zu 26 % aus Aussiedlern, gefolgt von Türken mit 18,4 Prozent

• Trend bei bikulturellen Ehen: Asiatische Frauen heiraten deutsche Männer, afrikanische Männer deutsche Frauen

• Die Geburtenraten bei Einheimischen und Migranten ähneln sich stark: 1,4 Kinder pro Frau.

Woellerts Zahlen lieferten auch Hinweise darauf, wo die Talente der Zuwanderer nicht genutzt werden – zum Beispiel anhand der hohen Quoten arbeitsloser Akademiker. Ihr Fazit: "Wir müssen Menschen mit guten Abschlüssen in den Arbeitsmarkt bekommen, sie müssen ihre Potentiale nutzen können".

Interessante Analysen bot auch der Vortrag von Professor Dr. Leonie Herwatz-Emden, Erziehungswissenschaftlerin an der Uni Augsburg. Sie plädiert für eine interkulturelle Erziehung und Bildung, die auch Erwachsene mit einschließt. "Interkulturelle Erziehung dekonstruiert Stereotypen, sie ist deshalb eine Querschnittsaufgabe, die in alle Bildungsbereich implementiert werden muss und eine Schlüsselqualifikation für Kinder, Jugendliche, Auszubildende sowie alle interkulturell handelnden Personen bedeutet. Wir haben Normalität in Frage zu stellen, jeder braucht ein großes Fragezeichen in sich. Differenzen sollen nicht nur erkannt werden, es müssen neue Konzepte erdacht werden, die dann entstehende Konflikte interkulturell lösen können. Wir machen uns nicht genug bewusst, ob andere Menschen anders denken. Dadurch entstehen Missverständnisse, Konflikte, Kriege." Warum und wo 51 Millionen Menschen – fast nur Frauen und Kinder – derzeit auf der Flucht sind, analysierte Peter Balleis, SJ, Direktor International des Jesuiten Flüchtlingsdienst. Am Ende stand eine einfache Formel: "Wo wenig Bildung, da viele Kriege".

Der Schweizer Dr. Bruno Glaus referierte die Erfahrungen seines Landes mit Migranten, wobei er deutlich machte, dass Zahlen und Fakten nicht unbedingt weiterhelfen. Politiker müssen beachten, dass Menschen nicht nach Fakten, sondern nach Emotionen entscheiden und betonte: "Integration geht nur dann problemlos, wenn es allen Leuten wirtschaftlich gut geht. Und wenn das Bildungssystem funktioniert, besonders bei der Berufsausbildung. Gerät das Wohlbefinden des Volkes in Gefahr, entsteh Nährboden für Fremdenfeindlichkeit."

Eine Handvoll Studenten mit Migrationshintergrund rund um Thomas Möllers (RC Augsburg) berichtete von persönlichen Erfahrungen in Deutschland und brachte sich mit unterschiedlichen Vorschlägen zur Verbesserung von Integrationsmaßnahmen ein. Die Tochter einer Spätaussiedler-Familie, Kristina Cyglakow, betonte dabei: "Der Wille zur Integration muss schon da sein. Sonst greifen alle Maßnahmen ins Leere".

Als letzter Referent betrat Leoluca Orlando die Bühne, Bürgermeister von Palermo. Er berichtete stolz von seinen sizilianischen Landsleuten, die kein böses Wort über Flüchtlinge verlieren würden, obwohl diese in Scharen auf der  "Nahostinsel" Europas ankämen. Seine Empfehlung lautet: Aufenthaltsgenehmigungen abschaffen – schließlich hätte man das bei Todesstrafe und Sklaverei auch irgendwann geschafft – sogar im Vatikan!