Peters Lebensart
Health Food – wie wir uns gesund essen sollen
Was Hildegard von Bingen schon vor 800 Jahren lehrte, gilt nun als „trendy“
Neujahr, Zeit der guten Vorsätze. Der häufigste dürfte sein, nach all den Schlemmereien, der fetten Weihnachtsgans und dem süßen Stollen, dem Silvesterbuffet und den geleerten Schampusflaschen etwas für die Figur zu tun, um fit ins Jahr 2019 zu starten. Mehr Bewegung, mehr Sport, das ist klar. Aber bei der angepeilten Ernährungswende stehen wir vor einem Berg von Entscheidungen und Infos. Früher hätte Frau oder Mann einfach gesagt: Ich mach jetzt eine Diät. Aber das griechische Wort, das ja eigentlich nur „Ernährung, Lebensweise“ bedeutet, ist etwas aus der Mode gekommen, hat einen Beigeschmack von Verzicht, der in unserer hedonistischen Welt manchen sauer aufstößt. Positive thinking ist auch am Esstisch angekommen. Jetzt heißt es nicht mehr verbotsartig: Das darfst du nicht essen, sondern aufmunternd: Das musst du essen, damit du gesünder wirst und dich wohlfühlst.
Health Food heißt der passende Trend, der aus den USA zu uns herüberschwappt und den Konsumenten erst einmal mit einer Fülle von Schlagwörtern bombardiert. Denn gesundes Essen will im Sinne der Selbstoptimierung kontrolliert und kategorisiert sein. Renner sind vor allem Smoothies aus dem Rohsaft von Gemüsen wie cale, brav deutsch auch Grünkohl genannt, der erfreulicherweise nicht mehr automatisch mit Schweinebacke und Pinkel aufgepeppt werden muss, sondern sich auch als vitaminspendende Rohkost empfiehlt. Ganz Trendige durchstreifen den heimischen Forst im Frühjahr auf der Suche nach jungen Tannentrieben, die selbst entsaftet werden. Besonders angesagt sind immun booster wie Waldheidelbeeren, Ingwer, südamerikanische Açai-Beeren oder auch der lange verpönte Knoblauch, die den allgemeinen Resistenzfaktor erhöhen sollen. Der gute alte Haferbrei wird als über Nacht eingeweichte overnight oats verklärt, sodass man die Powerflocken gleich nach dem Aufstehen verzehren kann. Mit dem Bichermüsli hatten wir das eigentlich immer schon so gemacht. Und Dinkel ist jetzt Superfood aus Deutschland – Hildegard von Bingen lässt grüßen. Getreidige Alternativen gibt’s in der Warenwunderwelt der Öko-Märkte genug: Emmer, Einkorn, Amaranth, Quinoa.
Jede Speise auf ihre medizinische Bekömmlichkeit zu prüfen, das gab es schon einmal. Das Gros der mittelalterlichen Kochbücher rechtfertigte sich gegen den sündhaften Verdacht der Feinschmeckerei dadurch, dass es zu jedem Rezept notiert, für welche Temperamente es aus ärztlicher Sicht gut sei. Erst in der Renaissance taucht ein neues Selbstvertrauen in die individuelle Speisewahl auf, das in der säkularisierten Genussküche des Barocks und der bürgerlichen Restaurants mündet. Diät, das war lange was für Kranke. Health Food macht hingegen Spaß, denn das damit verbundene bodyshaping macht uns schöner, perfekter und gesünder. Außerdem geht’s jetzt nicht um langweilige Kasteiung, sondern motiviert uns als Konsumenten, spannende neue Produkte auszuprobieren. Dazu kommen Reinheitsvorstellungen, die nicht mehr christlichen Entsagungsdiktaten entlehnt sind, sondern sich eher am esoterischen Nahrungspurismus indischer Ayurveda-Kost oder am ästhetischen Minimalismus japanischer Küche inspirieren.
Darüber nachzudenken, dass wir sind, was wir essen, kann uns allen guttun. Besser wäre dabei allerdings eine innere Ampel, ein natürliches Gespür für balanciertes clean eating als ein Wunderglaube an gehyptes Superfood und aufbereitetes Wholefood. Die Verantwortung für unsere Körper können wir nicht an die Regale der Bio-Supermärkte outsourcen.
Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.
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