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Entscheider

"Da gibt es sofort Theater!"

Entscheider - "Da gibt es sofort Theater!"
Klaus Scheitegel, Chef der Grawe-Versicherung, macht sich um das Geschäftsmodell seiner Versicherung keine Sorgen. © Ralph Koenig

Wie reagieren Versicherer, wenn sich die Welt auf den Kopf stellt? Ein Gespräch mit Klaus Scheitegel, Chef der Grawe-Versicherung.

Björn Lange01.05.2024

Es ist nicht leicht, bei Klaus Scheitegel einen Termin zu bekommen. Aber wenn man ihn hat, nimmt sich der Vorstandsvorsitzende des Grawe-Konzerns Zeit. Das Unternehmen ist fast 200 Jahre alt, beschäftigt rund 5500 Mitarbeiter in 13 Ländern, darunter immer noch die Ukraine, und steht – wie die gesamte europäische Wirtschaft – vor gewaltigen Herausforderungen, auf globale Entwicklungen zu reagieren.

Herr Scheitegel, wie steuert man eigentlich einen Konzern, dessen Geschäftsmodell auf Wahrscheinlichkeiten beruht, in Zeiten, in denen nichts mehr sicher ist?

Das ist eine gute Frage. Die Unsicherheiten haben in den letzten Jahren zugenommen, besonders seit der Pandemie hat auch die Dynamik der Ereignisse zugenommen. Die Pandemie und den Krieg in der Ukraine hatte niemand in seinem Gedankenmodell. Für ihr Risiko-Barometer hat die Allianz-Versicherung 3069 Risikomanager in 92 Ländern befragt, was sie als größtes Risiko für 2024 taxieren. Als Risiko Nummer eins wurden Cyberattacken genannt mit 36 Prozent, Nummer zwei sind allgemeine Betriebsunterbrechungen und Nummer drei sind Naturkatastrophen. Dieses globale Bild können wir bestätigen. Wir haben auch in Deutschland und Österreich Wetterphänomene, die nicht mehr wegzudiskutieren sind und in immer kürzeren Abständen auftauchen. Die Bilanzen von Versicherungskonzernen werden im Wesentlichen von zwei Faktoren bestimmt, nämlich Naturkatastrophen und Finanzmärkte. Schauen Sie nur mal auf die größten Naturkatastrophen des letzten Jahres: Im Februar das Erdbeben in der Türkei und Syrien mit über 58.000 Toten und einem Gesamtschaden von 50 Milliarden Euro. Auf Platz zwei folgte ein Taifun in China und auf den Philippinen. Auf Platz drei ist ein Hurrikan, der im Oktober über Mexiko hinwegzog, und auf Platz vier kommen schon die Hochwasserschäden in Griechenland, Italien, Bosnien, Slowenien und Österreich. Wir rechnen damit, dass sich solche Ereignisse wiederholen. Dafürrüsten sich die Versicherer schon seit mehr als zwei Jahrzehnten.

Aber vieles ist eben nicht vorhersehbar, zum Beispiel der Überfall Russlands auf die Ukraine. Worauf beruhen denn Ihre Prognosen? Sitzen da wirklich hunderte Mathematiker, die Ihnen Wahrscheinlichkeiten errechnen für Umweltveränderungen, Kriege und Zinsentwicklungen? 

Wir können die Zukunft nicht vorhersehen, aber wir können mit Planungstools versuchen, Dinge zu simulieren. Und das machen tatsächlich technische Mathematiker. Es gibt Aktuare für Lebensversicherungen, es gibt Schaden-Unfallmathematiker und andere. Jeder Versicherer hat wissenschaftliche Kooperationen mit Hochschulen und Universitäten. Ein Beispiel ist das Projekt „Hora“ zur Hochwasserrisikozonierung. Auf der Hora-Webseite geben Sie einfach eine Adresse in Österreich ein, und das System errechnet das Hochwasserrisiko. Für ein Land wie Österreich ist das Thema Wetter sehr wichtig, denn es regnet sich nördlich und südlich der Alpen ab. Das System ist kostenlos und sagt Ihnen auch die Wahrscheinlichkeit von Hagel und sogar die Hagelkorngröße voraus. Aus Daten der Vergangenheit versuchen wir Projektionen für die Zukunft zu machen. Unsere eigenen Mathematiker sind also in ein Netzwerk der Wissenschaften eingebettet.

Bei den Naturkatastrophen, den sogenannten Nat Cats, gibt es europaweit immer noch die größte Schutzlücke. Wie kann das sein? 

Ich weiß es nicht, aber ich kann es bestätigen. In Österreich sind Hochwasser und Erdbeben völlig unzureichend geschützt. In Deutschland sieht es ähnlich aus. Wir versuchen seit Jahrzehnten, die Politik dafür zu sensibilisieren. Es braucht einen gerechten Schutz für alle: Wer am Berg wohnt, braucht keinen Hochwasserschutz, wohl aber einen Schutz vor Lawinenschäden. Wer im Tal wohnt, braucht sehr wohl einen Hochwasserschutz.  Auch in Deutschland brauchen immer mehr Menschen einen Hochwasserschutz, nicht nur an den Küsten. Diese Risiken können nicht einige wenige tragen, das muss die Gesellschaft leisten, und dafür gibt es verschiedene Modelle.

Und wie wirken sich andersherum Ihre Prognosen auf Aktienkurse, Volkswirtschaften oder Migrationsbewegungen aus? Gibt es dazu Erkenntnisse?

Es gibt Beobachtungen. Wir sehen zum Beispiel, dass Finanzmärkte, die im Jahr 2022 praktisch verschwunden waren, im Jahr 2023 wieder da waren. Um unser ursprüngliches Geschäftsmodell mache ich mir keine Sorgen, denn langfristig werden immer mehr Menschen immer mehr versichern wollen. Wir sind ein klassischer Strukturfolger. Geht es unseren Kunden gut, geht es uns gut. Müssen unsere Kunden sparen, spüren wir das auch.

Wie kalkulieren Sie langfristige Risiken, die sogenannten Long-Tail-Risks? 

Das sind Simulationen, allerdings mit gewissen Abweichungstendenzen. Der Beginn der globalen Finanzkrise von 2008/09 war für uns nicht vorhersehbar, der Krieg gegen die Ukraine auch nicht. Das sind Einschnitte in die Finanzmärkte, die Sie nicht planen können. Wir versuchen über langfristige Verträge möglichst risikolos zu agieren.

Was Sie da schildern, klingt aber schon nach Risikomanagement.

Das ist so. Das hängt davon ab, wie viel Risiko man auf seine Bücher nimmt. Versicherer sind dafür bekannt, dass sie eher konservativ veranlagen. Da reden wir von Anleihen oder Immobilien. Eine nachhaltige Immobilienkrise sehen Sie auf der Aktiv-Seite von Versicherern, die ein starkes Immobilien-Portfolio haben, sofort. Da sind wir nicht besser und nicht schlauer als der Finanzmarkt per se. Man kann das Portfolio eher aggressiv oder eher konservativ gestalten, aber Versicherer sind eigentlich zur Vorsicht angehalten und werden ja auch beaufsichtigt – in Deutschland macht das die Bafin, in Österreich die FMA. Ein Versicherer ist nicht völlig frei in der Betrachtung der Finanzmärkte, der Kundenschutz steht über allem. Die Solvenzrate einer Versicherung muss stabil sein und muss diese auch veröffentlichen. Gute Versicherungen liegen bei über 200 Prozent. Damit soll sichergestellt werden, dass wir Versicherer unseren Verpflichtungen über Jahre nachkommen können.

Risiken können sich im Laufe der Jahre auch verändern. 

So ist es. In den 1980ern gab es im Zuge der Ostöffnung ein erhöhtes Risiko des Fahrzeugdiebstahls, da ging es um Kasko-Versicherungen. Das spielt heute kaum noch eine Rolle. Ein aktuelles Beispiel ist das steigende Feuerrisiko: Die starke Elektrifizierung von Haushalten und Ladestationen führt zu Batteriebränden. Technische Entwicklungen beeinflussen die Kalkulation enorm. Kann ein Versicherer ein Risiko nicht berechnen, dann kann er es nicht versichern, jedenfalls nicht allein. Dafür gibt es dann Zusammenschlüsse von Versicherungsverbänden, sogenannte Pools. Es gibt Pools für Atomkatastrophen, für Gentechnik, Kriege und Terroranschläge, über die bestimmte Ereignisse bis zu einer bestimmten Summe versichert sind.

Der Klimawandel konkurriert mit vielen anderen Themen: Wie machen wir die Altersvorsorge, die Gesundheitsvorsorge und die Verteidigung bezahlbar? Woher kommen die 50 Milliarden für das deutsche Schienennetz? Haben Sie Antworten darauf? Oder wenn Sie Politiker wären, was würden Sie zuerst anpacken?

Ich bin nicht so vermessen zu behaupten, dass ich diesen Beruf beherrschen würde. Es sind derzeit wirklich viele Bälle in der Luft. Das Problem ist aber, dass es völlig unterschiedliche Interessen gibt. Hier die Industrie, dort irgendwelche Lobbygruppen. Wir müssen global denken. Wir haben uns in Europa leider von der globalisierten Welt zur polarisierten Welt gewandelt. Ich glaube, dass die Pandemie und dieser furchtbare Krieg in der Ukraine mit unserer Gesellschaft mehr gemacht haben, als wir uns selbst eingestehen.

Was heißt das für Sie? Wie gehen Sie damit um? 

Es geht nur mit Wertschätzung und einer gemeinsamen Zielsetzung, einer gemeinsamen Aufgabe, damit Sie Orientierung schaffen. In unserem Konzern haben wir unter anderem Slowenen, Kroaten, Serben und Bosnier beschäftigt. Allein in unserem Haus in Graz werden 20 Sprachen gesprochen und es gibt ganz unterschiedliche Glaubensrichtungen. Es braucht ein Ziel und Orientierung, nicht nur in einem Konzern, sondern auch in einer Gesellschaft. Wir sind der fünftgrößte Versicherer Österreichs, wir haben 5500 Mitarbeiter. Wir leben und arbeiten zusammen. Natürlich haben unsere Mitarbeiter auch politische Meinungen, aber die spielen bei uns im Unternehmen keine Rolle.

Das unterscheidet Sie von der Gesellschaft – da können Sie keine politischen Meinungen ausblenden.

Aber es geht doch darum, wie man damit umgeht. Ich kann nicht einmal mehr eine positive Nachricht überbringen, ohne dass es Widerstand gibt oder die positive Botschaft kleingeredet wird. Auf einem Vortrag habe ich erzählt, dass wir immer älter werden, immer länger leben. Aber das längere Leben kostet halt ein bisschen was. Vielleicht müssen wir länger arbeiten oder mehr in die Gesundheitsvorsorge investieren. Da gibt es sofort Theater!

Aber Sie haben ja recht: Männer werden heute im Durchschnitt 78 Jahre alt, Frauen sogar 83. Dabei wird es nicht bleiben. Und im Moment kommen auf einen Rentner noch drei erwerbsfähige Personen, in 50 Jahren werden es nur noch 1,5 sein. Im Moment macht die staatliche Rente 46 Prozent des Ruhestandseinkommens aus, in 50 Jahren werden es nur noch 36 Prozent sein. Ist es nicht Zeit für neue Berechnungen? 

Natürlich. Wenn wir glauben, dass wir unsere Arbeit in vier Tagen pro Woche schaffen und dass wir unseren Wohlstand ohne Zuzug halten können, dann geht sich das nicht aus. Die von Ihnen erwähnte Demografieänderung ist keine Simulation, sondern Faktum. Wir werden älter,arbeiten aber weniger. Hier müssen wir gegensteuern, sonst sind unsere Pensions- und Gesundheitssysteme in dieser Form nicht mehr finanzierbar.

Auch die Grawe diversifiziert ihre Risiken und ist auf dem Immobilienmarkt aktiv. Wie sieht denn die Wohnung der Zukunft aus?

Da muss man in Österreich zwischen Stadt und Land unterscheiden. Und Österreich ist auch anders als Deutschland, weil wir mit Wien nur eine Metropole haben. Graz ist unsere zweitgrößte Stadt und spielt in einer Liga wie Augsburg – das sind ja keine richtigen Großstädte. Wir haben also einen anderen Zugang zum urbanen Wohnen. Wohnen hängt immer stark zusammen mit Infrastruktur und Verkehr. Junge Menschen wollen heute zwar mobil sein, müssen aber kein eigenes Auto besitzen. Junge Menschen sparen auch immer seltener auf eine eigene Wohnung. Wenn ich einem 25-Jährigen erzähle, dass er jetzt sparen soll, damit er sich mit 55 eine Wohnung leisten kann, ist das total unattraktiv. Wohnen und Nachhaltigkeit ist ein anderes, recht neues Thema. Kurze Wege sind gefragt, eine gute Infrastruktur. Und natürlich gilt immer noch: Lage, Lage, Lage. Aber mit angepasster Infrastruktur. Damit meine ich Sport- und Freizeitangebote, Betreuungsangebote für junge Familien, medizinische Versorgung. Gerade das Thema Wohnen ist für das Zusammenleben unserer Generationen von höchster Bedeutung und Relevanz und für den sozialen Frieden notwendig.

Lassen Sie uns noch über einen anderen Bereich sprechen, der Versicherungen immer stärker beschäftigt. Der Einfluss neuer Technologien und KI, auch die Verfügbarkeit von Big Data, verändern ja die Art und Weise, wie Versicherer Daten sammeln, analysieren und Risiken bewerten. Wo sehen Sie Einsatzmöglichkeiten für die KI?

Wir setzen KI vor allem dazu ein, redundante Tätigkeiten zu automatisieren, und natürlich zur Datenanalyse. Wir haben einen hohen Prozentsatz an automatisierten Prozessen, und wir haben einen hohen Prozentsatz an Kunden, die ausschließlich elektronisch mit uns verkehren. Wir werden immer effizienter, schneller und nachhaltiger. KI wird keine Arbeitsplätze ersetzen, sie soll unsere Mitarbeiter kreativer machen und sie von langweiligen Tätigkeiten befreien.

Wenn ich bei Ihnen anrufe, spreche ich dann mit einem Computer?

Nein, Sie werden während der Kernarbeitszeit von einer freundlichen, sympathischen Stimme empfangen. Das erwarten unsere Kunden auch. Jeder Kunde soll seinen Vermieter oder Berater persönlich kennen. Für standardisierte Anschreiben testen wir auch Chat GPT und sind überrascht von den Ergebnissen, aber wir schauen schon immer noch einmal drüber. Manchmal kommen dabei ja doch seltsame Dinge heraus. Wir machen nicht jeden KI-Hype mit, denn wir sind ein Versicherer und kein IT-Dienstleister. Und wir müssen unsere Kundenstruktur im Blick haben: wie viel KI wollen unsere Kunden eigentlich? Das ist spannend, wir werden es sehen.

Zukunft wird noch immer aus Zuversicht gemacht. Auch das Geschäft des Grawe-Konzerns hat sich gut entwickelt, und wir leben in einem kapitalistischen System, in dem Wohlstandsvermehrung auf Wachstum angelegt ist. Oder würden Sie sagen, dass dieses Modell nun an ein Ende gekommen ist?

Nein, das Modell selber nicht, aber es unterliegt Schwankungen. Es geht auf und ab. Da könnte ich jetzt Schumpeter zitieren und alle möglichen Kurven. Es ist nur eines klar: Nach dem Regen kommt auch wieder der Sonnenschein. Das ist auch in der Wirtschaft so. Junge Menschen kennen diese heiklen Phasen nicht, aber ältere Menschen schon. Und sie wissen: es wird wieder gut. Wir müssen wieder lernen, auch einmal vorübergehend mit einem Minus zu leben.

Wir sprechen über Kriege, Krisen und Konflikte, aber erleben doch eine Welt, die im Großen und Ganzen nach vorne drängt. Die Börsen entwickeln sich nicht schlecht. Das heißt doch, dass wir eine positive Grundstimmung haben. Wie passt das denn mit der trüben Gegenwart zusammen?

Das ist eine sehr gute Frage. Es passt nicht zusammen. Die Wahrheit ist, dass es uns besser geht, als es unsere Stimmung ausdrückt. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass wir immer länger leben. Wir wissen mehr, wir können mehr, wir leisten mehr. Das menschliche Leben ist in den letzten Jahrhunderten und Jahrzehnten reicher geworden, wertvoller geworden. Und ich habe leider das Gefühl, dass einige damit nicht sehr sorgsam umgehen.


Klaus Scheitegel (RC Graz-Neutor) ist studierter Jurist, seit 2017 Generaldirektor der Grawe. Er ist Vizepräsident des Verbands der Versicherungsunternehmen Österreichs.

Björn Lange
Björn Lange arbeitete seit April 2019 zunächst als stellvertretender Chefredakteur des Magazins im Rotary Verlag. Seit Juli 2020 ist er Chefredakteur des Rotary Magazins. Zuvor war er unter anderem Redaktionsleiter des Pressedienstleisters Rheinland Presse Service in Bonn und des B2B-Wirtschaftsmagazins inside B in Offenburg.