Im Fokus
Nachwuchspflege mit Domino-Effekt
Vor sechs Jahren wurde der New Generations Service Exchange (NGSE) eingeführt. Doch trotz einiger Erfolge konnte sich das Rotary-Programm bisher nicht richtig etablieren.
Eine internationale Karriere als Wirtschaftsgeologe scheint vorgezeichnet, mit Rotary als Türöffner: „Sie haben mir die Tür zur Welt aufgestoßen. Das hat meine Studienwahl beeinflusst und prägt auch meine Zukunftspläne“, sagt der 25-Jährige, der 2016 als Erster im Distrikt 1820 eine individuelle Förderung mit dem NGSE-Programm erhielt.
Zwar wird das Programm offiziell im Rotary Code of Policies gelistet, es fehlt aber bisher an einer Konzeption, um es international nachhaltig durchzusetzen.
Und so sind nach Frankfurt 87 Einzelkämpfer angereist, die in ihren Distrikten ganz auf sich gestellt junge Leute für eine spezielle Auslandserfahrung suchen beziehungsweise Interessenten aus dem Ausland in regionale Unternehmen vermitteln. Das Wochenende in Frankfurt ist – nach sechs Jahren – ihr erster internationaler Erfahrungsaustauch, der mit einer Resolution an Rotary International zu Ende gehen wird: Die Beauftragten aus 54 Distrikten und 21 Ländern fordern RI auf, für den NGSE ein ständiges Komitee einzurichten, Personal und Sachmittel bereitzustellen und darauf hinzuwirken, dass weltweit einheitliche Standards für Versicherungs-, Finanzierungs- und Visumsfragen festgelegt werden.
Die Stoßrichtung der Konferenz-Organisatoren um Past-Governor Friedrich Neddermeier (RC Oldenburg-Ammerland) und Dennis White (RC Sturgeon Bay, USA) ist eine Anerkennung, die über die Papierform hinaus die Gleichstellung mit den anderen Säulen im Jugenddienst wie Rotaract/Interact sowie RYLA bedeutet. „Nur dann“, so Neddermeier, „wird NGSE Teil des Trainingsprogramms in den Governor-Schulungen. Und nur dann wird es in allen Distrikten bekannt und kann sich entwickeln.“
Brauchen wir denn aber noch ein weiteres Austauschprogramm? Die Antwort der NGSE-Vertreter fällt wortreich aus, wobei auch der Hinweis auf die Zukunftssicherung von Rotary selbst nicht fehlt. Um die grundlegende Problematik zu sehen, genügt ein Blick auf den Jugendaustausch. Er ist zwar das Glanzstück weltweiter rotarischer Zusammenarbeit und begründet das Renommee der Organisation als Wegbereiter der internationalen Verständigung. Ideen jedoch, wie die internationalen Erfahrungen der Outbounds über ihre Schulzeit hinaus fruchtbar gemacht werden können, sind noch nicht in einer konsequenten Strategie zusammengeflossen.
„Austauschgefühl“ weiterleben
Dabei haben die meisten Teenager, wie das Beispiel des jungen Geologen zeigt, das Eintauchen in die fremde Kultur weniger als nette Unterbrechung der Schulzeit denn als Orientierungshilfe für den zukünftigen Lebensweg erfahren. Aus dem verbindenden Erlebnis ist vor einigen Jahren ROTEX entstanden: Rotary Exchange ist ein in Eigeninitiative gegründeter lockerer Zusammenschluss, um ehemaligen Austauschschülern einen Treffpunkt zu geben. Die Idee hat sich schnell über die Distrikte ausgebreitet, auch weil Rotexer wichtige Aufgaben im Jugenddienst übernehmen können. Der Grundimpuls ist jedoch ein anderer: Bei ROTEX können sie das besondere „Austauschgefühl“ noch eine Weile weiterleben, bevor es im deutschen Alltag allmählich verloren geht.
Betrachtet man diese Entwicklung von Rotary International aus, kann man froh sein, dass die jungen Leute sich zusammengetan haben. Andernfalls würden sie nämlich völlig von der Bildfläche verschwinden. Denn nach dem Jahresaustausch, der jedes Jahr über 8000 junge Leute um die Welt schickt, folgt erst einmal – nichts. Die Jugendlichen gehen ihrer Wege, die mit viel Glück irgendwann vielleicht einmal zu Rotaract führen. Aktive Alumnipflege ist erst vor wenigen Jahren auf der Agenda aufgetaucht, und auch erst, als die Panik bei der Betrachtung der Mitgliederentwicklung nicht mehr wegzudrücken war. Plötzlich werden die jungen Leute wieder interessant, und man fragt sich, wie man sie so lange übersehen konnte. Zumal sie ja die rotarischen Werte bereits kennen. Wer, wenn nicht sie, sollen die rotarische Bewegung weiterführen?
NGSE ist ein attraktiver Baustein, denn es füllt eine Lücke, die zwischen den einzelnen Elementen des Jugenddienstes klafft. Die rotarischen Fachleute setzen dabei auf einen Domino-Effekt, bei dem sich aus jedem Impuls ein neuer ergibt: vom Austauschjahr zu ROTEX, zum NGSE-Programm und Rotaract. Und hoffentlich irgendwann zu Rotary.
Ersatz für Group Study Exchange
Bescheidene Anfänge in diese Richtung reichen zurück in die 1990er Jahre, als erstmals die Altersgruppe nach den Schülern ins Blickfeld geriet. 1996 wurde ein New Generation Exchange (NGE) als Kurzzeitaustausch für 18- bis 25-Jährige eingeführt, der aber wenig Resonanz fand. Sein Geburtsfehler war, dass auch für diese jungen Erwachsenen eine Zertifizierung der Distrikte wie im Jugendaustausch gefordert wurde, ein bürokratischer Aufwand, der neben den hohen Kosten für ein schnelles Ende des Experiments sorgte.
Besser lief es 2013, als Rotary mit dem Future Vision Plan seine Förderstruktur mit Global Grants und District Grants neu organisierte und das NGSE-Programm für 18- bis 30-jährige Erwachsene mit einer Dauer von maximal sechs Monaten aufgelegt wurde. Es war zunächst einmal ein Ersatz für den beliebten Group Study Exchange (GSE), der nach der neuen Grant-Struktur aus der Förderung durch die Rotary Foundation herausfiel. Als weiteres neues Element kamen noch die Vocational Training Teams (VTT) dazu, die die Expertise junger Berufstätiger für Projekte in Bedarfsländern nutzbar machen sollten, bisher in Deutschland allerdings auf wenig Resonanz stoßen.
NGSE dagegen findet massives Interesse bei jungen Leuten, nicht zuletzt weil es maßgeschneidert ihren Interessen angepasst werden kann. Da das Programm sich an Erwachsene wendet, entfallen die Zertifizierungsauflagen. Der Austausch soll möglichst zwischen den Distrikten auf Gegenseitigkeit erfolgen, wobei die Teilnehmer ihre Reisekosten und persönlichen Aufwendungen selbst tragen und ihre Gastgeber für die Unterbringung sorgen. Kosten für Rotary International sind nicht vorgesehen. Das große Plus im Vergleich zu den üblichen akademischen Auslandsprogrammen, betonen Betreuer wie Absolventen, liegt im rotarischen Familienanschluss. Damit erfährt das Programm die gewünschte gesellschaftliche Verankerung und Einbindung in die rotarische Welt.
Zumeist sind es ehemalige Jugenddienstbeauftragte, die sich um NGSE kümmern. Etwa Eva Fischer (RC Wels Nova), eine ehemalige Lehrerin, die die österreichischen Distrikte 1910 und 1920 betreut. „Wenn eine Anfrage eines Interessenten bei mir eingeht, folgen oft zwei intensive Wochen am Telefon und Internet, um den passenden Platz zu finden.“ Als Schwerpunkte haben sich nach den Angeboten aus ihren Clubs die Bereiche Medizin, Industrie, Mode und Sport herauskristallisiert. Anfangs gab es nur den Gruppenaustausch, inzwischen kümmert sie sich ausschließlich um individuelle Anfragen.
Daniela Singer, RC Fränkische Schweiz-Wiesenttal, hat in knapp drei Jahren alle 66 Clubs ihres Distrikts wiederholt zu NGSE gebrieft und bringt ihr Anliegen immer wieder in Erinnerung. Rund 30 Anfragen laufen im Jahr bei ihr ein. „Je spezifischer die Anfrage, desto langwieriger die Vermittlung“, fasst sie ihre Erfahrung zusammen. Großen Wert legt sie darauf, dass NGSE keineswegs nur als Akademiker-Programm wahrgenommen wird. Und erinnert sich gern an den Biersommelier aus Südamerika, der im Raum Bamberg Einblick in etliche kleine und große Brauereien nehmen konnte. Das war nicht nur ein attraktives Thema für die Medien, sondern hatte auch bemerkenswerte Folgen für die beteiligten Clubs. „Das ist ein ganz wesentlicher Punkt dieses Programms, den man nicht übersehen darf“, betont Singer. „Als Gastgeber eines NGSE-Teilnehmers oder einer Gruppe bekommt der Club ein erstklassiges Hands-on-Projekt quasi frei Haus geliefert. Das bringt frischen Wind ins Clubleben.“
Wünschenswert: Mehr „Service“
Zur ganzen Wahrheit gehört allerdings auch, dass das „S“ in NGSE zumeist unter den Erwartungen bleibt. Die berufliche Komponente steht gegenüber dem Service-Aspekt im Vordergrund. Während Singer NGSE-Interessenten, die gleich nach dem Abitur ins Ausland wollen, gern als Deutschlehrer ans Goethe-Institut in Harare/Simbabwe vermittelt, gehört die Teilnahme an Serviceprojekten der Gastgeber-Clubs oder überhaupt im Gastland noch nicht überall zum Regelangebot.
Das wäre so ein Element, das in dem zu schreibenden NGSE-Handbuch eine zentrale Rolle bekommen könnte. Bis auf Weiteres bleiben die Einzelkämpfer in den Distrikten noch auf sich gestellt und können frei von jeder RI-Betreuung ihre Vermittlungsarbeit nach Angebot und Nachfrage organisieren. Bevor die Appelle an RI eventuell dazu führen, dass es regelmäßige Konferenzen wie die Frankfurter gibt, steht ihnen vorerst nur ein virtueller Treffpunkt unter youngadultexchanges.org zur Verfügung. Immerhin 200 NGSE-Beauftragte stehen dort im Austausch miteinander.
Für nähere Informationen zum NGSE-Programm steht Friedrich Neddermeier (RC Oldenburg-Ammerland) zur Verfügung:
E-Mail: ryege.ned@t-online.de
Matthias Schütt ist selbständiger Journalist und Lektor. Von 1994 bis 2008 war er Mitglied der Redaktion des Rotary Magazins, die letzten sieben Jahre als verantwortlicher Redakteur. Seither ist er rotarischer Korrespondent des Rotary Magazins und seit 2006 außerdem Distriktberichterstatter für den Distrikt 1940.
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