Stuttgart
„Wählen Sie bitte jetzt“
Beim Distriktfest in Stuttgart waren Smartphones ausdrücklich willkommen – als Vehikel zur Meinungsbildung
Der Anblick hatte etwas Irritierendes: Auf dem Podium sprach Governor Jan Wagner zu den Zuhörern im Theaterhaus Stuttgart. Doch die beschäftigten sich mit ihren Handys. Ein Affront… doch nur auf den ersten Blick. Denn die Mitglieder folgten genau den Anweisungen ihres Governors, der Meinungen zu aktuellen Rotary-Fragen einholte. Abstimmen per Tastendruck, das gefiel den rund 300 Teilnehmern und brachte bemerkenswerte Ergebnisse. So votierten 60 zu 40 Prozent für Wertegemeinschaft gegenüber Serviceorganisation, als gefragt wurde, wofür Rotary denn eigentlich stehen soll.
Verheißung oder Fluch?
Neue Technik und alte bürgerliche Traditionen, das muss kein Widerspruch sein. Man mag zur Digitalisierung stehen, wie man will – Verheißung oder Fluch –, ignorieren jedoch geht nicht mehr. Wie also damit umgehen? Anregungen gab ein moderierter Dialog zwischen der Journalistin Alexandra Borchardt („Mensch 4.0 – Frei bleiben in einer digitalen Welt“) und dem Medientheoretiker Beat Wyss („Vom Bild zum Kunstsystem“), die ganz unterschiedliche Perspektiven beschrieben.
Während Borchardt allen unheimlichen Algorithmen zum Trotz davon ausgeht, dass der Nutzer Herr der Technik bleibe, sieht Wyss die Entwicklung pessimistisch. Die Digitalisierung führe in Abhängigkeit und Diktatur, und zwar doppelt: Sie schafft die Arbeit ab und damit den Kern des bürgerschaftlichen Wertekonzepts. Und sie arbeitet denen in die Hände, die unsere Freiheiten kontrollieren wollen.
Ein Hilfsmittel, mehr nicht, soll die digitale Technik sein. Denn es warten andere, lebenswichtige Aufgaben: Wenn 150 Millionen Menschen in der Welt nicht richtig sehen können, hilft kein Smartphone. Wohl aber eine Ein-Dollar-Brille, das Distriktprojekt von Gov. Wagner. Normierte Kunststoffgläser aus China, Federstahldraht, eine einfache Biegemaschine - in 20 Minuten ist die Brille fertig und eröffnet den Patienten eine ganz neue Sicht auf die Welt. Ein Global Grant in Burkina Faso, getragen von einem Großteil der 55 Clubs, geht mit 65.000 Dollar an den Start.
Zu starre Meetingformate
Symbol gemeinschaftlichen Gestaltungswillens ist auch eine SWOT-Analyse von Stärken und Schwächen, die die Distriktleitung mit den 55 Clubs erarbeitet hat. Erwünscht ist ein permanenter Austausch darüber, wie Rotary weiterentwickelt werden muss. Als besondere Stärke nennt Gov. Wagner die generationsübergreifende Freundschaft in den Clubs, als Schwäche oft zu starre Meetingformate, die neue Kandidaten abschrecken. Wagner: „Es gibt keine pauschalen Lösungen, aber wir wollen darüber im Gespräch bleiben und voneinander lernen.“

Matthias Schütt ist selbständiger Journalist und Lektor. Von 1994 bis 2008 war er Mitglied der Redaktion des Rotary Magazins, die letzten sieben Jahre als verantwortlicher Redakteur. Seither ist er rotarischer Korrespondent des Rotary Magazins und seit 2006 außerdem Distriktberichterstatter für den Distrikt 1940.
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