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Alles auf Anfang …
… oder die Sehnsucht nach dem Analogen: Schlaf und Vinyl sind wieder zeitgemäß. Martin Hoffmeister über spannende Bücher und CDs
Übermüdet vom nächtlichen Flug saß ich unlängst bei kleinem Frühstück in einem Warschauer Hotel. Neben Croissant und Espresso ließ mir die Bedienung ungefragt ein Exemplar der New York Times zukommen. Eine der Headlines auf der Titelseite lautete „Sleep is the new status symbol“. US-Wissenschaftler hatten einen neuen Trend ausgemacht. Ich rieb mir die Augen. Hatte man nicht in den vergangenen Jahrzehnten gerade in den Weltmetropolen damit geprahlt, selten zu schlafen oder wenn, nur mit Tablet oder Laptop auf dem zweiten Kopfkissen? Galt nicht Schlaf als bevorzugter Seinszustand eher der Langweiler, Motivationsgebremsten oder Erfolglosen?
Der Paradigmenwechsel im Zeichen von Kontemplation und, wie es die Zeitung formulierte, „neuem Körperbewusstsein“ zeigt eine Tendenz an, die sich auch bereits in anderen Lebensbereichen zunehmend manifestiert hat: die Sehnsucht nach Realem, nach Wahrhaftigkeit. Im Raum digitaler Totalität wächst die Affinität zum Fass- und Unmittelbaren. Angekommen ist das Thema auch im kritischen Diskurs.
Der Kanadier David Sax etwa reflektiert in seinem jüngsten Essay kurzweilig und pointiert die kulturelle und gesellschaftliche Wiederbelebung von Print, Vinyl, Papier, Brettspiel, Handarbeit oder Einzelhandel. Er dokumentiert an zahllosen Beispielen, wie sich alternativ zum globalen Digitaltrend eine nachhaltige „postdigitale Wirtschaft“ entwickelt, einhergehend mit steigender Wertschätzung und Passion für analoge Warenwelten und Ideen. Saxs wortmächtige Abrechnung mit den Schein- und Simulationswelten des Digitalen zählt zu den aufschlussreichsten Einlassungen des Bücherfrühlings.
Kaum weniger dem Analogen verpflichtet, erkennt sich die Wiederveröffentlichung des 1951 posthum publizierten Garten-Klassikers des Schriftstellers, Hommes de lettres und Italienliebhabers Rudolf Borchardt. Das kulturgeschichtlich fokussierte Werk präsentiert philosophische Reflexionen, verleiht biografische Einblicke und fungiert zugleich als eindrücklicher Spiegel eines Denkens, das beispielhaft oszillierte im Spannungsfeld von Natur und Kultur.
Ebendort verortet ist das aufwendig produzierte Radio-Feature von Bettina Mittelstrass. Die Autorin begleitete den Tonkünstler Christian Zehnder auf der Suche nach Echos durch die Schweizer Bergwelt. Protagonisten des atmosphärischen wie suggestiven Tondokuments sind neben den Echo-Jägern auch Historiker, Philosophen, Psychoanalytiker und Religionswissenschaftler. Beleuchtet wird das akustische Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven – mal als anthropologische Konstante, als Mythos oder literarische Projektionsfläche. Ich vernahm das raffinierte Klang-Tableau vor dem Schlaf in einem Zimmer des ehrwürdigen Brixener Traditionshotels Elephant, nachdem ich den Tag zunächst in den Bergen und später unter meinem Kopfhörer verbracht hatte.
Es galt, sich dem diskografischen Herz der russischen Cello-Legende Mstislav Rostropovich zu widmen, dem Warner Classics mit edel gestalteter 40-CD-Box seine Reverenz erwiesen hatte. Die Intensität des Spiels, der abgetönte, tiefschürfende, runde, fast bauchige Ton mit seinem schillernden Farbspektrum schien letzte Dinge zu verhandeln.
Mit Blick aus dem Fenster auf die Berggipfel, schwand die Erinnerung an die Zumutungen des Alltags. Von fern grüßte das analoge Europa.
Martin Hoffmeister publiziert regelmäßig in nationalen und internationalen Magazinen und Zeitungen. Als Redakteur im Kulturressort des MDR-Hörfunk beobachtet er die Musik- und Literaturszene seit mittlerweile drei Jahrzehnten. Im Rotary Magazin empfiehlt er Neuerscheinungen aus dem Kulturleben und Fundstücke von seinen Reisen.
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