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Armenfürsorge im Niemandsland?

Titelthema - Armenfürsorge im Niemandsland?
© Thomas Fuchs

Was, wenn die Rezession mehr Bedürftige hervorbringt? Über das Verhältnis von Philanthropie und staatlichen Kernaufgaben

Nils Ole Oermann01.11.2022

Zum Erntedank veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Beitrag, in dem ich mich ökonomisch wie ethisch mit dem stark wachsenden Phänomen der Armenspeisung in Deutschland kritisch auseinandergesetzt habe. So werden die sogenannten Tafeln von mittlerweile mehr als zwei Millionen Bedürftigen in einem Niemandsland zwischen Philanthropie und staatlicher Sozialfürsorge als semi offizielle staatliche Armenküchen genutzt.

Nun ist Philanthropie, aber auch gleichzeitig die Frage, was unseren Staat als Gemeinwesen trägt und ausmacht, ein Kernanliegen von uns Rotariern. Wie kann es dann sein, dass die aktuelle Speisung von Millionen von Menschen, inklusive einer rapide wachsenden Zahl von Flüchtlingen, über einen 1993 gegründeten Verein als rein private Unternehmung organisiert wird, staatlicherseits als Grundversorgung dankbar mitgenommen und etwa ukrainischen Flüchtlingen direkt empfohlen wird?

Die Voraussetzung für eine sachgemäße wie angemessene Beantwortung dieser Frage beginnt mit einer korrekten Lagebeschreibung, mit der wir Deutsche uns seit den 2010er Jahren offenbar immer schwerer tun. So stellt sich die aktuelle Lage wie folgt dar: Der Krieg in der Ukraine wird deutlich länger dauern als gedacht. Parallel zu diesem militärischen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine befindet sich Deutschland seit Februar mit seinen Partnern in einem Wirtschaftskrieg mit Russland. Hier scheint sich noch nicht überall die Erkenntnis Bahn gebrochen zu haben, dass man Kriege, die man erklärt, durchhalten und am Ende gewinnen muss. Eine der multikausalen Folgen: Die deutsche Wirtschaft steht vor einer nicht gekannten Rezession, und zahlreiche Ökonomen warnen schon vor einer Insolvenzwelle im Mittelstand als dem Rückgrat unserer Gesellschaft, welcher diesem Land verlässlich seit Jahrzehnten überhaupt erst Wohlstand gebracht hat.

Die Rezession trifft auch die Mittelschicht

Hinsichtlich der Erfassung der beschriebenen Lage verfestigt sich dabei auch medial der Eindruck, dass viele Menschen in Deutschland noch gar nicht realisiert haben, was da in den nächsten Monaten für Herausforderungen auf sie zurollen. Die aktuell beginnende Rezession wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur die bereits Armen, sondern auch große Teile der gesellschaftlichen Mitte erschüttern. Und in der Folge werden wir im reichen Deutschland sehr wahrscheinlich noch mehr bedürftige Menschen haben als die aktuell zwei Millionen Nutzer der Tafeln. Dies wiederum führt zurück zur gestellten Frage des Verhältnisses von privatem Engagement und staatlichen Kernaufgaben.

Wer soll sich wie um die Bewältigung der erwartbaren Folgen der Rezession kümmern, wenn bereits jetzt Millionen von Mitbürgern eine Armenspeisung in Anspruch nehmen; denn nichts anderes leisten die Tafeln jeden Tag – auch wenn einem Ausdrücke wie „Armenspeisung“ oder „Armenküche“ aufgrund der mit ihnen einhergehenden Bilder nur schwer über die Lippen gehen.

Angeklagt trotz wichtiger Spenden

Daran kann man erstens problematisch finden, wie hier die staatliche Aufgabe, für Flüchtlinge zu sorgen, teilweise an private Mildtätigkeit überstellt wird. Es lässt sich zweitens nicht leugnen, dass der Ukrainekrieg aufgrund der nochmals stark gewachsenen Zahl der Nutzer allen, die bei den Tafeln arbeiten oder dort um Hilfe nachsuchen, eine zusätzliche Belastung auferlegt. Und es lohnt sich drittens, darüber nachzudenken, welche Probleme diese Entwicklung denen bereitet, die bisher mit Lebensmittelspenden die Tafeln unterstützt haben, wie das zum Beispiel viele Lebensmittel-Discounter seit nunmehr Jahrzehnten tun.

Letztere geraten ohnehin schon unter Druck, weil steigende Lebensmittelpreise und Transportkosten sie dazu zwingen, noch schärfer zu kalkulieren und noch knapper zu ordern – was die Menge des für die Tafeln Bleibenden tendenziell senkt. Sie sehen sich außerdem unter Anklage gestellt von Aktivisten, die zum einen für den Eigen- wie Fremdbedarf „containern“ und zum anderen den Unternehmen regelmäßig vorwerfen, sie würden Lebensmittel verschwenden und obendrein die Preise hochtreiben. Denn das Weggeworfene müsse ja vom Verkauften mitbezahlt werden. Es geht um circa elf Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle pro Jahr, was laut Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft etwa 20 Prozent aller Nahrungsmittel entspricht. Und nun also noch mehr Nachfrage nach Spenden wegen der weltpolitischen Katastrophe des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine?

Das Wesen des Dilemmas

Im Ergebnis entspricht diese Lage aus Sicht der Tafeln wie vieler Spender einer entschärften Version des klassischen Bildes von Skylla und Charybdis. Das waren zwei Ungeheuer, die an einer Meerenge hausten, durch die Odysseus segeln musste. Sein Schiff konnte nicht beiden entgehen, denn es kam unvermeidlich einem von ihnen zu nahe. Übertragen auf unseren Fall illustriert die antike Geschichte das Wesen eines Dilemmas, das sich vom Problem dadurch unterscheidet, dass es nicht lösbar ist: Entweder verstetigen oder erhöhen die Spender unter stark gestiegenen Kosten ihre Lieferungen und werden für den hohen Grad abgelaufener Lebensmittel und damit für deren Verschwendung kritisiert. Oder sie reduzieren ihre Lieferungen, wie aktuell geschehen, und für die wirklich Bedürftigen bleibt in über 900 Tafeln schlicht zu wenig übrig. Wo aber ist der Staat in alldem, wenn sich in seinen Städten Schlangen von Bedürftigen bilden, die einem kalten, teuren und langen Winter entgegensehen

Wahr ist: Der Staat verwendet in seinem im Ausgabevolumen größten Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit Hartz IV und anderen Instrumenten viel Steuergeld für soziale Absicherung. Wahr ist aber auch, dass Millionen Nutzer der Leistungen eines privaten Vereins zur Armenspeisung tagtäglich die offensichtliche Dysfunktionalität staatlicher Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und ihrer verfehlten Anreize vor Augen führen. Durch solch schlecht koordiniertes staatliches Handeln produziert man gleich mehrere Folgeprobleme, die in der Kombination zu einer für alle erkennbaren Schwächung des Staates selbst führen können, durch das seine Bürger das Vertrauen in staatliches Handeln zu verlieren drohen.

Notnagel, nicht die Regel

So verursacht der Staat durch das eigene Unterlassen, das eben in diesem Fall einem aktiven Tun gleichkommt, einen Konflikt innerhalb der Tafeln, und zwar zwischen alten und neuen Nutzern, indem Behörden private Lebensmittelhilfe zur gesellschaftlich erwarteten Regelleistung für Flüchtlinge machen. Und gleichzeitig riskiert der Staat die Reputation der Spender, die in Zeiten hoher Inflation und gestiegener Erwartung an ihr nachhaltiges Handeln diesem kaum noch nachkommen können und in der Folge auch nicht mehr wollen. Denn welcher Spender lässt sich gerne für die Art kritisieren, wie er spendet?

Kurz: Tafeln sollten ein letzter Notnagel und nicht die Regel sein. Spenden und Philanthropie sind ein Segen und keine staatliche Hilfsarmee. Man mag sich gar nicht ausmalen, was in einem Bäckergesellen vorgeht, der sich bei jener Tafel als Nutzer wiederfindet, die er jahrelang mit eigener Hände Arbeit beliefert hat. Gerade viele kleine und mittelständische Spender und ihre Mitarbeiter wissen angesichts von Energiekrise, Inflation und Kaufzurückhaltung nicht, ob und wie sie selber über die Runden kommen sollen.

Nicht nur wir Rotarier schulden diesen Mitbürgern darum unsere handfeste Solidarität und zwar nicht allein im Sinne von großzügiger Mildtätigkeit und Philanthropie, sondern als Mitsteuerzahler, die das Glück und Privileg haben, eine Arbeit zu haben, aus der heraus wir Steuern erwirtschaften und staatliche Kernaufgaben bezahlen dürfen. So galt noch im 19. Jahrhundert Steuerzahlen als Privileg, was es spätestens dann nicht mehr ist, wenn man das Gefühl hat, dass willkürlich oder ideologiegeleitet mit den Beiträgen der Bürger umgegangen wird.

Welchen Staat wollen wir?

Nötig ist darum – nicht nur bei den Tafeln – ein viel höheres und für alle Bürger nachvollziehbares Maß an ordnungspolitischer Klarheit: von der Differenzierung zwischen Asyl und gesteuerter Migration über nachvollziehbare wie pragmatische Wirtschaftspolitik bis hin zu einer Sozialpolitik, die durch die von ihr gesetzten Anreize ebenjener Spaltung unserer Gesellschaft wirklich effektiv entgegenzuwirken vermag, die den Tafeln aktuell die Nutzer in die Arme treibt. Der Staat sollte dabei klarer definieren, was er leisten muss – und nur das zu finanzieren ist dann Aufgabe aller. Die Tafeln sind eine wichtige Ergänzung des Sozialstaates, aber sie können ihn nicht ersetzen.

Bleibt zu hoffen, dass sich der Staat auch dem engen Zusammenhang von Arbeitsplätzen, Produktivität und Steueraufkommen stets bewusst bleibt, wenn er in unserem Namen und auf Kosten unserer Kinder und Kindeskinder über neue Verschuldung zuweilen erratisch wirkende Rettungspakete schnürt. Wir sind dieser Staat, sodass letztlich wir als Wähler uns fragen müssen: Welche Armenpflege, welche Sozialfürsorge, welche Besteuerung, welche Spendenkultur, welche staatlichen Kernaufgaben, kurz: Welchen Staat wollen wir? Sicherlich keinen, in dem arbeitsfähige Menschen auf ihre gespendeten Lebensmittel warten. In diesem Sinn sollte unser Staat, der im Sinne des alten Böckenförde-Diktums von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, zumindest so klug sein, genau diese Voraussetzungen – vor allem den guten Willen seiner Bürger – nicht durch eigene Ineffektivität zu zerstören.


­Buchtipp

 

Nils Ole Oermann, Hans-Jürgen Wolff

Trade Wars. Past and Present

Oxford University Press 2022,

316 Seiten, 30,44 Euro

Nils Ole Oermann

Univ.-Prof. Nils Ole Oermann, RC Stendal, lehrt Ethik mit Schwerpunkt Wirtschaftsethik in Lüneburg und Oxford. Von 2002 bis 2020 hat er für und mit Wolfgang Schäuble gearbeitet und war der persönliche Referent von Bundespräsident Horst Köhler.

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