Titelthema
Bilanz einer Kanzlerschaft
In seinem Sammelband analysieren Philip Plickert und seine Mitautoren kritisch und klug die Merkel-Jahre.
Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.“ An dieses Wort aus dem Alten Testament dachte ich direkt nach der Bundestagswahl, als ich endlich dazu kam, ein bereits im Juni 2017 erschienenes, auf meinem Schreibtisch liegendes Buch zu lesen. Denn bereits im Sommer hatte hier eine Gruppe kluger Autoren den Herbst einer Kanzlerschaft antizipiert und die Gründe dafür ziemlich treffsicher zu analysieren vermocht.
In dem von FAZ-Wirtschaftsredakteur Philip Plickert herausgegebenen Band „Merkel. Eine kritische Bilanz“ eröffnen so unterschiedliche Autoren wie David Marsh und Christopher Caldwell, Necla Kelek und Rafael Seligmann, Justus Haucap und Roland Tichy, Michael Wolffsohn und Norbert Bolz ihre ganz unterschiedliche Sicht auf die Regierungszeit der ersten Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland.
Eines eint sie: Sie fokussieren sich bei allen Verdiensten auf eine bilanzierende Fehleranalyse, die sich nicht nur an den Stichworten „Flüchtlingskrise“ und „Energiewende“ immer wieder an folgender Leitfrage abarbeitet: „Wer ist und vor allem: Was treibt eine Frau, die über Nacht Entscheidungen trifft, die ein Land auf Jahrzehnte verändern?“
Fundierte Kritik
Wer aus dem Rathaus rauskommt, ist immer schlauer. Und sich rasch verändernde Zeiten erfordern rasche Entscheidungen. So wäre womöglich die Antwort Angela Merkels auf die meisten der implizit oder explizit gemachten Vorwürfe in diesem Buch. Aber das wird der Analysetiefe nicht gerecht, die die 22 Beiträge von Professoren und Publizisten erreichen.
Die Fähigkeit zu fundierter Kritik macht den Reiz für jene Leser aus, die die Oberflächlichkeit der Merkel-Kritik eines Alexander Gauland, einer Katja Kipping oder eines Jürgen Trittin eher ermüdet.
Alle Autoren haben verstanden, dass man nicht über viele Jahre an der Spitze dieses Landes steht, weil man nur Glück gepaart mit politischem Finderspitzengefühl hatte. Angela Merkel ist in der Tat ein „politisches Phänomen“ – das ist auch den schärfsten Merkelkritikern klar.
Deren Kritik ist hier strukturiert und gleichzeitig gut lesbar: Anspruch und Wirklichkeit, das sind die Kategorien, in denen die Autoren fast durchgehend bilanzieren. Statt denkende Menschen als Wähler medial mit Gefühlen weichzuspülen, gelingt hier fast durchgängig die analytisch so notwendige wie wohltuende Trennung von Sachverhalt und Wertung: So gelangt Cora Stephan zu ihrer These, Angela Merkel habe im entscheidenden Moment der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 eben nicht beherzt gehandelt, sondern sich im Ergebnis weggeduckt, durch eine klare Differenzierung der Begriffe „Tun“ und „Unterlassen“.
Viele Menschen meinen, dass jemand, der etwas nicht tut, im Ergebnis auch nicht handelt. Das ist falsch: Wem eine absehbare Krise ohne krisenfesten Plan in der Tasche immer weiter eskaliert, der handelt und eskaliert durch eigenes Unterlassen. Und wer den Weg zu dieser Eskalation nicht etwa anklagend oder gar besserwisserisch, sondern fair und ausgewogen analysiert, indem er auf ignorierte Warnungen oder absehbar scheiternde „Deals“ mit der Türkei auf Grundlage eines sauber nachvollzogenen Sachverhalts verweist, dessen Urteil ist umso gravierender – eben weil man nach der Lektüre nicht umhin kommt, die entwickelten Argumente ernst zu nehmen, anstatt diese politisch zu skandalisieren.
Auch wenn man damit rechnen muss, dass bei derlei Gelegenheiten fast immer auch alte, politische Rechnungen beglichen werden, so widerstehen doch fast alle Autoren dieser Versuchung. Alles hat seine Zeit, aber wer mit der Zeit geht, wird schnell Witwer. Intellekt ist hingegen genauso zeitlos wie politische Urteilsfähigkeit.
Ein lesenswertes Buch.
Univ.-Prof. Nils Ole Oermann, RC Stendal, lehrt Ethik mit Schwerpunkt Wirtschaftsethik in Lüneburg und Oxford. Von 2002 bis 2020 hat er für und mit Wolfgang Schäuble gearbeitet und war der persönliche Referent von Bundespräsident Horst Köhler.
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