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Der Subsidiaritätsgedanke und die Profilbildung in Diakonie und Caritas

Franckes Erben

Vor 350 Jahren wurde der Theologe und Pädagoge August Hermann Francke in Lübeck geboren. 1698 gründete er in Halle ein Waisenhaus und legte damit – nach dem Motto „Weltveränderung durch Menschenveränderung“ – den Grundstein zu einem einzigartigen Sozial- und Bildungswerk.

Nils Ole Oermann13.02.2013

Vor einigen Jahren betitelte der Publizist Kilian Kirchgessner einen Artikel in der ZEIT mit „Die guten Manager. Diakoniewissenschaft ist ein Orchideenfach“. Kirchgessner bestätigt darin eine häufig formulierte Wahrnehmung, auch wenn die gesundheits- und arbeitsmarktpolitische Bedeutung von Diakonie und Caritas in Deutschland das genaue Gegenteil zu belegen scheint: Über 400.000 Menschen arbeiten hierzulande in der Diakonie, und fast 500.000 Menschen beschäftigt die Caritas – mit gut zweistelligen Milliardenumsätzen. Nur der öffentliche Dienst in Deutschland beschäftigt mehr Menschen. Die Dienstleistungen von Diakonie und Caritas nehmen pro Tag über 1 Million Menschen in Anspruch.

Das klingt nicht nach Orchidee. Nur: Was genau unterscheidet die kirchlichen Träger in der Tradition eines August Hermann Francke, eines Friedrich von Bodelschwingh, eines Adolph Kolping von anderen Anbietern am Markt? Diese Frage stellt sich nicht nur Arbeitsrechtlern. Betriebswirte und Marketingexperten sprechen bei Profilbildung von Organisationen oder Unternehmen gern von „Alleinstellungsmerkmalen“. Dabei suchen sie nach Vorbildern für eine gelungene Profilbildung. Diakonisch-caritative Unternehmungen zeigen sich darum besonders interessiert an der „theologischen Achse“ ihres Profils, weil sie diese und deren theologische Fundierung neben dem eindeutig ökonomischen Fokus ihrer Arbeit als ihre „Mission“ in der theologisch-ökonomischen Doppelbedeutung anderen vermitteln können (müssten).


Bei der theologischen Fundierung gibt es konfessionelle Unterschiede, die gerade vielen evangelischen Trägern oftmals nicht klar sind. Fragt man sich etwa, welcher theologische Impuls unseren Sozialstaat als Ganzes besonders nachhaltig geprägt hat, so wird man eher und nicht zufällig in der katholischen Theologie fündig. Man wird auf die Entwicklung des Subsidiaritätsprinzips als eines der drei Leitprinzipien der Katholischen Soziallehre stoßen (Personalität, Solidarität, Subsidiarität). Gerade außerhalb von Theologie und Kirche, speziell in den Rechtswissenschaften und der Politik – besonders bei sozial- und europapolitischen Themen – wird dieses Prinzip regelmäßig herangezogen, wenn es um die Priorisierung staatlich-föderaler Aufgaben geht. Diejenigen, die diesen Begriff wie selbstverständlich benutzen, wissen jedoch häufig wenig über dessen theologische Wurzeln und dessen ethischen Begründungszusammenhang oder halten ihn gar – fälschlicherweise – für einen Artikel unseres Grundgesetzes.


Bei genauerem Hinsehen unterscheidet sich das, was katholische und evangelische Theologen meinen, wenn sie vom „Subsidiaritätsprinzip“ sprechen, deutlich. Für die einen ist dies ein lehramtlich unterlegtes Prinzip, für die anderen ein „Subsidiaritätsgedanke“, da es bereits am zentralen Lehramt fehlt. Gemeinsam ist den Konfessionen zwar noch, dass sie die Frage von Vor- und Nachrangigkeit problematisieren wollen, wenn sie von Subsidiarität reden. Die Frage ist aber: Wer oder was ist wem nachzuordnen und auf welcher Grundlage? Oder noch fundamentaler: Warum eigentlich soll die kleinere Einheit Vorrang vor der größeren haben, und wer genau ist diese „Einheit“?

Kern des Subsidiaritätsprinzips

In den Rechtswissenschaften differenziert man zwischen institutioneller und materieller Subsidiarität. Mit dem Begriff der institutionellen Subsidiarität wird im Sozialrecht etwa die Nachrangigkeit staatlicher Sozialleistungsträger zu den freien Wohlfahrtsverbänden beschrieben. Materielle Subsidiarität hingegen bestimmt, unter welchen Bedingungen welche Leistungen und Interessen eines bestimmten Personenkreises nachrangig sind.


Oswald von Nell-Breuning, der 1931 Papst Pius XI. wesentlich beriet beim Verfassen seiner Enzyklika „Quadragesimo Anno“, in der dieser das Subsidiaritätsprinzip ausformulierte, sieht es so: „Das Prinzip handelt von der Hilfe, die das Gemeinwesen seinen Gliedern schuldet (subsidium = Hilfe, Beistand Reserve; subsidiarum officium = Pflicht zur Hilfeleistung). Die beste (Gemeinschafts-) Hilfe ist die Hilfe zur Selbsthilfe. Alle Hilfe […] soll diesen die eigene Erfahrung durch Regen ihrer eigenen Kräfte möglich machen, erleichtern, fördern. Das und nichts anderes fordert das Prinzip der Subsidiarität. Wer stattdessen mit seiner Hilfe sich an die Stelle dessen setzt, dem geholfen werden soll, hilft ihm in Wahrheit nicht, sondern hält ihn in Unmündigkeit und Unselbständigkeit, indem er ihn am Regen der eigenen Kräfte hindert; das ist das genaue Gegenteil von Hilfe und verstößt darum das Prinzip.“


Mit anderen Worten: Nell-Breuning liegt nicht primär an einer Antwort auf die Frage, welche kirchliche Institution oder soziale Einrichtung im Sozialstaat wem vorzuordnen ist. Er liest das Subsidiaritätsprinzip vielmehr als Antwort auf die Frage, warum die individuelle Hilfe, warum lokal und regional organisierte Hilfe einer zentralstaatlichen Lenkung sozialer Fürsorge vorzuziehen ist. Seine Antwort: Weil eben letztlich der konkrete Einzelne, der Hilfe benötigt, im Zentrum dieser Hilfe stehen soll und nicht der Helfer.


Auch evangelische Theologen würden die Vorrangigkeit der individuellen Hilfe und den Subsidiaritätsgedanken bejahen können. Was sie theologisch allerdings kaum teilen könnten, ist eine auf dem klassischen Naturrechtsbegriff fußende Herleitung von Subsidiarität als lehramtlichem Prinzip, bzw. als Ausdruck einer „natürlichen Gesellschaftsordnung“, wie dies in „Quadragesimo Anno“ geschieht. Doch auch ohne den eigentlich notwendigen Exkurs in die mittelalterlichen Wurzeln des Naturrechts wird deutlich: Wer ein Subsidiaritätsprinzip allein formal-ordnungstheologisch oder institutionentheoretisch begründet, läuft Gefahr, dabei das Individuum, den konkreten Hilfesuchenden aus dem Blick zu verlieren und sich so in leer laufenden Bürokratien oder amorphen Managementkonzepten zu verzetteln.

Gerade die Frage des Verhältnisses des Individuums zum Ganzen, konkret des Einzelnen zum Sozialstaat, ist theologisch wie ethisch von entscheidender Bedeutung – bis hin ins Management diakonisch-caritativer Prozesse. Denn das Bild vom Menschen entscheidet letztlich darüber, wie er behandelt wird – und wie Hilfsorganisationen im weitesten Sinne gestaltet und geführt werden. Schon Oswald von Nell-Breuning stellte fest: „Am Menschenbild entscheidet sich die Sozialethik“.

Verantwortung des Einzelnen

Damit zurück zur Profilbildung, die einem Francke, einem Bodelschwingh oder einem Kolping eben durch ihre ausgeprägte Persönlichkeit und ihr individuelles Engagement glückte: Profilbewusstsein ist entscheidend. Fragt man nach den christlich-konfessionellen Wurzeln des eigenen Profils, dann ist etwa die Historie der Inneren Mission in großem Maße die Geschichte von lokalen, subsidiären Erfolgsbeispielen und weniger von den großen sozialpolitischen Würfen.

Kein geringerer als Albert Schweitzer, der selbst „durch und durch Individualist, d.h. nicht nur von Natur, sondern auch aufgrund von Erfahrung und Denken der geborene und verschworene Gegner alles [!] Kollektivismus“ war, drückt diesen Zusammenhang wie folgt aus: „Der Mensch darf niemals aufhören, Mensch zu sein. In aller Tätigkeit darfst du nie unpersönliche Energie, Ausführungsorgan irgendeiner Sache, Beauftragter der Gesellschaft sein, sondern du mußt dich in allem mit deiner persönlichen Sittlichkeit auseinandersetzen, so unbequem, so verwirrend es für dich ist, und versuchen, in allem, was du tun musst, nach der Menschlichkeit zu verfahren und die Verantwortung für das Los, das du einem anderen Menschen bereitest, zu tragen.“

Den subsidiären Vorrang eines persönlichen, lokalen und regionalen Engagements vor einem anonymisierten und zentralisierten Ansatz fasst Schweitzer aus der Perspektive der angewandten Ethik wie folgt zusammen: „Waren nicht viele Organisationen, die wir der Not der Zeit zu begegnen geschaffen hatten, fast wie leerlaufende Mühlen? Jede Organisation, die auf Wohltätigkeit gerichteten inbegriffen, ist auf die Dauer nur soviel wert, als sich tüchtige Menschenenergien in ihr betätigen, denn persönliche Initiative, die vielgestaltig anpassungsfähige Kraft der Einzelnen, ist die Einheit, aus der sich jede wirkliche Leistung aufbaut.“ Keine Ordnungsvorstellung, kein Gemeinwohlpostulat und kein vermeintlich ökonomischer Sachzwang entlassen den einzelnen Menschen aus dieser moralischen Verantwortung für sein Handeln.

Der Ausgangspunkt dieses Artikels war die Frage, ob und wie Diakonie und Caritas aus ihrem vermeintlichen Orchideenstatus ausbrechen können. Eine mögliche Antwort könnte lauten: Indem sie ihr Profil immer wieder auch theologisch prüfen und daraufhin in die Lage versetzt werden, jedem, der ihre Dienstleistungen in Anspruch nimmt, zu vermitteln, warum, für wen, mit wem, zu welchen Tarifen und letztlich auf welcher Grundlage sie diese Leistungen als kirchliche Einrichtung anbieten. Nichts anderes meint „Profilbildung“. Und „subsidiär“ bedeutet, dass diese Klärung auf unterster Ebene erfolgen muss. Ein kirchliches Krankenhaus, das nicht vermitteln kann, warum es eben dieses ist und weiterhin sein will, hätte zumindest als privilegierte kirchliche Einrichtung keine Existenzberechtigung. Nicht mal als Orchidee.

Nils Ole Oermann

Univ.-Prof. Nils Ole Oermann, RC Stendal, lehrt Ethik mit Schwerpunkt Wirtschaftsethik in Lüneburg und Oxford. Von 2002 bis 2020 hat er für und mit Wolfgang Schäuble gearbeitet und war der persönliche Referent von Bundespräsident Horst Köhler.

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