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Die Elite ist westlich

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Wenn die alten westdeutschen Eliten in ostdeutschen Führungspositionen in den Ruhestand gehen, könnten vermehrt junge ostdeutsche Führungskräfte nachrücken © Manfred Segerer/ddp

30 Jahre nach der Deutschen Einheit sind Ostdeutsche in Führungspositionen noch immer stark unterrepräsentiert. Nun gibt es erste Anzeichen dafür, dass sich das ändern könnte.

Kai-Axel Aanderud01.12.2020

Auch nach drei Jahrzehnten Deutscher Einheit hat sich an der westdeutschen Dominanz in den Führungspositionen in Kultur, Medien, Militär, Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft wenig geändert. Im Bundeskabinett stammt lediglich die in Frankfurt (Oder) geborene Familienministerin Franziska Giffey aus dem Osten; Bundeskanzlerin Angela Merkel ist gebürtige Hamburgerin, wenngleich in der DDR sozialisiert. Im Bundeskanzleramt ist kein einziger ostdeutscher Spitzenbeamter tätig, in den Bundesministerien sind gerade einmal vier der 133 Abteilungsleiter in einem der neuen Länder geboren. „Mir hat gerade jemand erzählt, dass auch keine deutsche Universität von einem oder einer Ostdeutschen geleitet werde“, staunt Merkel im Herbst 2019 in einem Interview. „Das ist nicht nur seltsam, das ist ein wirkliches Defizit. Wir haben da noch viel Arbeit vor uns.“

Kein mangelnder Aufstiegswille

Während die Ostdeutschen 19,4 Prozent der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung ausmachen, sind sie insbesondere in der Wissenschaft mit 1,5 Prozent, in der Justiz mit zwei Prozent und in der Wirtschaft mit 4,7 Prozent stark unterrepräsentiert. Die Bevölkerung nimmt die „Westlastigkeit“ unserer Eliten durchaus wahr – in einer repräsentativen Umfrage betrachten fast drei Viertel der 1766 Befragten den geringen Anteil Ostdeutscher an der gesellschaftlichen Elite als Problem und aus der ostdeutschen Perspektive als politische und gesellschaftliche Benachteiligung. Politisch ist dieses strukturelle Defizit brisant, stellt es doch die Legitimität und Repräsentation demokratischer Institutionen in Frage. Denn kaum einer der Befragten glaubt, die Unterrepräsentation der Ostdeutschen sei auf deren mangelnden Aufstiegswillen oder individuelle Schuld zurückzuführen.

Hiltrud Werner, sonst niemand

In einer Anfang Oktober 2020 publizierten biografischen Analyse von 2756 Führungskräften in 3056 Elitepositionen gingen das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung in Berlin, die Universität Leipzig und die Hochschule Zittau/Görlitz den Ursachen für die ostdeutsche Unterrepräsentation in zentralen gesellschaftlichen Bereichen nach. Zunächst mussten die Wissenschaftler definieren, wer eigentlich „ostdeutsch“ ist, und zogen für ihre Elitenerhebung den Geburtsort heran: Damit galt jede Person, die in der DDR oder in Ostdeutschland geboren wurde, als „ostdeutsch“. Da 89,5 Prozent der Angehörigen der bundesdeutschen Eliten vor 1976 geboren und damit eindeutig in der DDR oder in Westdeutschland beziehungsweise im Ausland sozialisiert wurden, schien den Forschern der Geburtsort als Kriterium besonders gut geeignet.

In der Politik entspricht der Anteil der Ostdeutschen an der Führungsebene dank der Stellenbesetzung durch den Wähler und der für einen politischen Aufstieg geringeren Bedeutung der sozialen Herkunft mit 19 Prozent nahezu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung. In den Chefetagen der Wirtschaft bleiben sie dagegen weit zurück (4,7 Prozent): Derzeit leitet kein einziger Ostdeutscher ein DAX-Unternehmen, und selbst in den großen ostdeutschen Firmen stammen zwei Drittel der Unternehmensführer aus dem Westen. Die in Bad Doberan geborene Diplom-Ökonomin Hiltrud Werner, im Vorstand der Volkswagen AG für den Geschäftsbereich Integrität und Recht verantwortlich, ist als Ostdeutsche ein Solitär in der Wirtschaft. Dennoch lehnen es 30 Prozent der für die Elitenerhebung Befragten ab, die ostdeutsche Repräsentationslücke mithilfe einer gesetzlich verankerten Quote zu schließen.

Nach 30 Jahren Deutscher Einheit wächst jedoch zugleich die Erwartung an die Politik, auch in der Zusammensetzung der Eliten die vom Grundgesetz geforderten gleichwertigen Lebensverhältnisse in ganz Deutschland herzustellen, in materieller wie in wertbezogener Hinsicht. Nicht zuletzt das Empfinden vieler Ostdeutscher, für ihre Lebensleistung nicht ausreichend anerkannt zu werden, führt zu einer die extremen Parteien begünstigenden politischen Protesthaltung und zur Herausbildung einer „frakturierten“ Gesellschaft. Einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahre 2019 zufolge betrachten sich 47 Prozent der Bürger in den neuen Bundesländern ausschließlich als Ostdeutsche und lediglich 44 Prozent von ihnen als Angehörige der gesamten Nation, während unter Westdeutschen die gesamtdeutsche Identität dominiert.

Im Osten schneller an die Spitze

Die Abwanderung von schätzungsweise 3,6 Millionen überdurchschnittlich jungen, gut ausgebildeten und oft weiblichen Ostdeutschen seit 1990 hatte eine Verknappung des Pools an möglichen Führungskräften zur Folge. Die vakanten Spitzenpositionen füllten 2,5 Millionen junge westdeutsche Experten, die im Osten dank ihrer Kenntnis westlicher Institutionen, Normen und Gesetze die Chance auf eine Karriere nutzten, auf die sie im Westen viele Jahre hätten warten müssen. Tatsächlich waren die in den 1990er Jahren nach Ostdeutschland übersiedelnden West-Eliten im Durchschnitt deutlich jünger als ostdeutsche Führungskräfte und verweilten daher entsprechend lange auf ihren Positionen. Nun gehen jene Gestalter in Rente, und eine nachwachsende Generation drängt in die Führungsetagen. Die Chancen, bereits relativ frühzeitig Verantwortung zu übernehmen, sind im Osten immer noch größer.

Im Juli 2020 vollzog sich dieser Generationswechsel am höchsten deutschen Gericht: An jenem Tag wählte der Bundesrat die in Staßfurt (Sachsen-Anhalt) geborene Rechtswissenschaftlerin Ines Härtel einstimmig zur Richterin am Bundesverfassungsgericht. Ihre ostdeutsche Herkunft war von Anfang an ein wesentliches Kriterium für ihre Wahl. Härtel, zuvor Professorin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), lehrte dort unter anderem Datenschutz- und Digitalrecht, Europa- und Agrarrecht. „Die Wahl zum Richteramt am Bundesverfassungsgericht erfüllt mich mit großer Freude, Stolz und Demut zugleich“, sagte die 48-jährige Ostdeutsche. „Gerade im 30. Jahr der Deutschen Einheit empfinden viele diese Wahl als weiteres wichtiges Zeichen für ein gleichberechtigtes Miteinander auch in den Institutionen des Rechts in unserem Land.“


Buchtipp

 

 

Kai-Axel Aanderud

30 Jahre Deutsche Einheit:
Eine Bilanz

Mittler im Maximilian Verlag (2020),

272 Seiten, 24,95 Euro