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Die Unentrinnbarkeit der Biographie

Forum - Die Unentrinnbarkeit der Biographie
Umstrittene Stimme einer aussterbenden Volksgruppe: Eginald Schlattner © Privat, Mihai Andrei/Wikipedia

Zum 85. Geburtstag des Siebenbürger Schriftstellers Eginald Schlattner, der in seiner Jugend fünf Schriftsteller an die Securitate verriet und später zum Chronisten seiner Volksgruppe wurde

Henning von Vieregge01.09.2018

Zu seinem 70. Geburtstag vor fünfzehn Jahren konnte man in der Wochenzeitung der Freitag über ihn lesen: „Um an der Einsamkeit nicht zu verzweifeln, schreibt er Bücher, die Besteller sind. Um an seiner Einsamkeit nicht zu zerbrechen, sorgt er aufopfernd für die bettelarmen Zigeuner seiner Gemeinde. Und kann der Leere und der Schuld doch nicht entkommen.“

Die Rede ist von Eginald Schlattner, Pastor, Schriftsteller, Verräter. Die Literaturwissenschaftlerin Michaela Nowotnick titelte ihre Dissertation über Schlattners Werk, die mittlerweile als Buch erschienen ist „Die Unentrinnbarkeit der Biografie”. Auch in seiner Heimat bleibt Eginald Schlattner mit seinen nunmehr 85 Jahren umstritten, wie ein Bericht der Siebenbürgischen Zeitung über eine Veranstaltung zu dem Autor Anfang dieses Jahres bezeugt: „Als Fazit drängte sich für die zahlreich erschienenen Besucher im Haus der Heimat die Erkenntnis auf, dass die menschenverachtende kommunistische Diktatur noch immer einen langen Schatten wirft, dass das Gift der Lüge und der Zwietracht bis heute nachwirkt.”

Jugend im Stalinismus
Eginald Schlattner gehört zu den namhaftesten Vertretern der rumäniendeutschen Literatur – und ist zugleich einer ihrer umstrittensten Köpfe. 1933 in Arad geboren, verbrachte er seine Kindheit in Fogarasch und legte 1952 in Kronstadt sein Abitur ab. Anschließend studierte er evangelische Theologie in Klausenburg und geriet schon bald mit der Staatsmacht in Konflikt. So wurde er bereits nach einem Jahr wieder von der Hochschule verwiesen und musste auf ein Mathematik- und Hydrologie-Studium ausweichen.

Im Jahre 1957, kurz vor dem Examen, wurde Schlattner aus politischen Gründen verhaftet und monatelangen Befragungen ausgesetzt. Die Securitate bearbeitete ihn, um ihn als Zeugen gegen eine Gruppe siebenbürgisch-sächsischer Schriftsteller aufzubauen. Als dann 1959 der Kronstädter Schriftstellerprozess eröffnet wurde, sagte Schlattner tatsächlich gegen Andreas Birkner, Wolf von Aichelburg, Georg Scherg, Hans Bergel und Harald Siegmund – mit denen er zum Teil befreundet gewesen war – aus. Die Schriftsteller wurden zu insgesamt 95 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, auch Schlattner bekam wegen angeblicher „Nichtanzeige von Hochverrat“ eine zweijährige Freiheitsstrafe.

Nach der Entlassung arbeitete Schlattner zunächst als Tagelöhner, später als Ingenieur. 1973 konnte er das Theologiestudium wieder aufnehmen und arbeitete daran anschließend bis zu seiner Pensionierung als evangelischer Pfarrer in Rothberg (Rosia), wo er heute noch wohnt, sowie als Gefängnispfarrer. Jahre nach dem Ende des Kommunismus erfuhr Eginald Schlattner sogar hohe Ehren im In- und Ausland. So wurde er 2002 zum „Kulturbotschafter Rumäniens“ ernannt und zwei Jahre später mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst erster Klasse ausgezeichnet.

Das zweite Leben
Mit diesen Ehren wurde vor allem Schlattners zweites Leben als Schriftsteller gewürdigt, das – abgesehen von einigen frühen Texten – sehr spät begann. Erst im Rentenalter legte er seinen ersten Roman vor, dem zwei weitere folgten. Alle drei Werke sind biographisch angelegt und widmen sich Schlüsselereignissen der siebenbürgisch-sächsischen Geschichte. So dreht sich Schlattners erster Roman „Der geköpfte Hahn“ (1998) um den 23. August 1944.

Der 16-jährige Ich-Erzähler lädt seine Mitschüler ins großbürgerliche Haus seiner Eltern in Fogarasch (heute Fagaras) ein, und am Abend kommt die Nachricht, dass die Rumänen unter ihrem jungen König Michael den Militärdiktator Ion Antonescu festgesetzt und die Fronten gewechselt haben; weg von den Achsenmächten, hin zu den Alliierten. Die Siebenbürger Sachsen ahnten vielleicht nicht das ganze Ausmaß des Unglücks, was auf sie zu kam, aber doch, dass mit den Russen, deren Ankunft nun unvermeidbar war, große Veränderungen zu ihrem Nachteil bevorstehen würden.

Das Erscheinen der Russen, die Hoffnung auf Demokratie unter König Michael, die Absetzung des Königs und der Beginn der kommunistischen Herrschaft schildert der Roman „Das Klavier im Nebel“ (2005). Wer wissen will, wie es zuging, wenn Kommunisten – zusammengesetzt aus Idealisten, Opportunisten und Zynikern der Macht – mit dem Regieren anfangen, dem sei dieser Roman empfohlen.

Bei gelegentlicher Weitschweifigkeit enthält er wunderbar erzählte Geschichten etwa über die Geschehnisse auf der Staatsfarm Roter Stier, dem ehemaligen Lindener Gut vor den Toren von Schäßburg. Dort sollte den Kolonisten, den neuen, unbedarften und mäusearmen rumänischen Besitzern der sächsischen Bauernhöfe beigebracht werden, was fortschrittliche Viehzucht bedeute, nach dem letzten Stand sowjetischer Wissenschaft. So beginnt eine Episode, in der die Kühe nicht kapieren wollten, wie gut es ihnen im Sozialismus geht.

Die Verarbeitung des Verrats
Schlattners interessantester Roman ist jedoch „Die Roten Handschuhe“ (2000), in dem er von seiner Verhaftung 1957 bis hin zu dem Kronstädter Schriftstellerprozess erzählt. Schlattner war der Kronzeuge – und fünf Schriftsteller wurden nicht zuletzt aufgrund seiner Aussage verurteilt. Mit diesem Schauprozess wollte das kommunistische Regime, „die letzten Reste von geistig-intellektueller Unabhängigkeit der deutschen Minderheit in Rumänien zerschlagen“ (Ernest Wichner in der Welt vom 6.4.2001). Das gelang, nicht zuletzt mit Schlattners Mithilfe.

Die Freunde von einst haben ihm diesen Verrat nie verziehen. Von ihnen lebt noch, mittlerweile 93-jährig, Hans Bergel, nach seiner Haftentlassung nach Deutschland emigriert. Er ist der schärfste Kritiker von Schlattner geblieben, nennt den Roman „Die roten Handschuhe“ nach einem missglückten Versöhnungsversuch einen „trickreichen Selbstrechtfertigungsversuch eines Verräters.“ Wird man damit Schlattner gerecht? In jedem Falle sind seine Rechtfertigungen widersprüchlich und nicht frei von Selbststilisierung.

So erklärte er später in einem Interview: „Es war eine Grenzsituation. Die Securitate hat mich verhaftet, als ich gerade in die Partei eintreten wollte. Zu Recht forderten die Offiziere bei den Verhören, ich sollte meine ehrliche Absicht so beweisen, indem ich Stellung beziehe gegen die Staatsfeinde.“ Er habe dies zudem getan, um den Klausenburger Literaturkreis mit 306 dort eingeschriebenen Studenten vor einem Monsterprozess zu bewahren. Schlattner weiter: „Das Wort Verrat deckt nicht ab, was dort geschehen ist. Es war nur eine Frage der Zeit, wie lange einer Widerstand leistet und wann er sich ergibt.

Dieses Wort Verrat ist inadäquat für das, was sich bei der Securitate abgespielt hat.“ Und weiter mit Trotz: „Jeder will Held sein, mir genügt der Antiheld“. Am glaubwürdigsten und zugleich irritierensten in den „Roten Handschuhen“ sind die Verhörpassagen, in denen Schlattner vom Glück der Rücksichtslosigkeit berichtet. Er wollte in den Verhören „mit aller Gewalt der neue Mensch sein, und nur der. Hugo Hügel wird zusammengestrichen zu einem Schemen regimefeindlicher Details.

Er verliert sein Gesicht, ich muss ihn nicht mehr lieben. Und er wird austauschbar. So wie ihm ergeht es mir mit jedem, nachdem ich in Stereotypenformeln gefragt werde. Ich freue mich, wie gut der neue Mensch in mir funktioniert.“ Die Romanfigur Hugo Hügel steht übrigens für jenen Schriftsteller, den Schlattner am meisten verehrte, jenen Hans Bergel, mit dem er sich bis heute nicht versöhnen konnte. Was an Schlattner irritiert, ist nicht zuletzt die karikierende Art und Weise, in der er in den „Roten Handschuhen“ zum Teil jene fünf Schriftsteller und einstigen Freunde beschreibt, die 1959 nicht zuletzt auch aufgrund seiner Aussage verurteilt worden waren. Das alles wirkt so, als ob der Verräter von einst noch Jahrzehnte später seine eigene Schuld zu relativieren sucht. Kann man es den Verratenen angesichts dessen verdenken, dass sie bis heute eine Annäherung oder gar Versöhnung ablehnen?

Bleibender Wert
Doch warum sollte man sich dann diesem Eginald Schlattner noch widmen – und vor allem seine Romane lesen? Vor allem, weil alle Verfehlungen dieses Siebenbürger Sachsen nichts daran ändern, dass seine Romane einen hohen literarischen Wert haben. Wohl selten in der Literatur ist die Zersetzung eines jungen Mannes durch Haft und Folter in einem Securitate-Kerker so eindringlich dargestellt worden wie in den Roten Handschuhen. Wer zur Geschichte der Siebenbürger Sachsen mehr erfahren will, dem seien die Romane Eginald Schlattners empfohlen. Wir begegnen darin dem tragischen Schicksal einer Volksgruppe, die es schon bald nicht mehr geben wird.