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Wikileaks und die Diplomatie

Ein Leck sagt mehr als tausend Worte

Malte Herwig15.02.2011

Es war ein besonderes Diner, und der Gastgeber hatte es an keinem Luxus fehlen lassen: Mehr als ein Dutzend Gänge, darunter die eigens aus Saint Tropez eingeflogene Nachspeise, ließ der Gastgeber im Laufe des Abends auftragen, als er den amerikanischen Botschafter am 17. Juli 2009 in seiner luxuriösen Villa an der tunesischen Mittelmeerküste bewirtete. Dabei, so kabelte der US-Diplomat wenige Tage später nach Washington, sei Mohammad Sakher El Materi, Schwiegersohn von Tunesiens Langzeitdiktator Ben Ali, eigentlich gerade auf Diät gewesen. Detailliert und mit süffisanten Kommentaren beschrieb der Amerikaner die protzige Ausstattung des Anwesens und seinen Besitzer. Materi sei „fordernd, eitel und schwierig“. In seiner mit römischen Säulen und antiken Fresken vollgestopften Luxusvilla halte er einen echten Tiger, der den Diplomaten an den Löwenkäfig des Saddam-Sohns Udai in Bagdad erinnerte. Materis opulenter Lebensstil und die Art, wie er seine Bediensteten behandele, mache deutlich, warum er und andere Mitglieder der Diktatorenclique bei vielen Tunesiern verhasst seien, resümierte der Amerikaner.

Sturz eines Despoten

Dieser eigentlich als geheim eingestufte Bericht wurde erst jetzt bekannt, als er zusammen mit Tausenden amerikanischer Botschaftsdepeschen aus aller Welt von der Internet-Enthüllungsplattform Wikileaks veröffentlicht wurde. Seitdem können der australische Wikileaks-Gründer Julian Assange, 39, und seine meist anonymen Mitarbeiter nicht nur den Rücktritt eines FDP-Büroleiters auf ihrem Konto verbuchen, sondern sogar den Sturz eines Despoten: Kurze Zeit nach Veröffentlichung der amerikanischen Depeschen brach in Tunesien ein Volksaufstand los, in dessen Folge Diktator Ben Ali seinen eigentlich auf Lebenszeit besetzten Alleinherrscherposten räumte und kurzerhand ins Ausland floh.

Das amerikanische Außenministerium hat jeden Zusammenhang mit der unfreiwilligen Veröffentlichung der Depeschen aus Tunis dementiert. Dennoch: Die Vermutung liegt nahe, dass der Volkszorn der Tunesier nicht zuletzt durch die darin enthaltenen detaillierten Beschreibungen des ausschweifenden Lebenswandels der Herrscherclique angestachelt wurde.

Es wäre in der Tat ein Erfolg im Sinne Assanges und seiner Mitstreiter, die als Kämpfer für Informationsfreiheit und gegen die Geheimniskrämerei von Regierungen auftreten.

Ein Leck wirkt mehr als tausend Worte. Das Dumme ist nur: Bisher ist der Neuigkeitswert der von Wikileaks lancierten Enthüllungen durchaus überschaubar. Die Publikation des vertraulichen Materials sorgte zwar für betretene Gesichter im US State Department, dessen Diplomaten sich rund um den Globus um Schadensbegrenzung bei ihren düpierten Gastgebern bemühen mussten. Aber ihren Arbeitsplatz verloren dank der Enthüllungen bisher außer dem tunesischen Diktator nur zwei Personen: FDP-Chef Westerwelle musste seinen Büroleiter feuern, weil der dem US-Botschafter Murphy ein bisschen zu ausführlich aus den deutschen Koalitionsverhandlungen berichtet hatte. Außerdem musste der Chef eines deutschen Satellitenbauers seinen Hut nehmen, als bekannt wurde, dass er in vertraulichen Gesprächen mit den Amerikanern über das „dumme“ europäische Satellitenprogramm Galileo gelästert und die Franzosen der Industriespionage bezichtigt hatte.

Promi-Stories in der Klatschpresse

Statt echter Skandale war es vielmehr der indiskrete Charme der Diplomatie, der wochenlang die Öffentlichkeit beschäftigte. Vor allem die unverblümten Porträts, die US-Gesandte im Vertrauen auf Geheimhaltung von den Wichtigen und Wichtigtuern der internationalen Politik zeichneten, bekamen im Lichte dieser Öffentlichkeit den peinlichen Enthüllungsgrad einer Promi-Story in der Klatschpresse.

Mit jeder neuen Veröffentlichung schien der Normalbürger einen aufregenden Blick durchs Schlüsselloch in die Zentren der Macht werfen zu können: Russlands Premierminister Putin sei ein „Alpha-Rüde“, war da zu lesen, und dass der libysche Revolutionsführer Muammar el Gaddafi nur noch in Begleitung seiner vollbusigen ukrainischen Krankenschwester verreise. Betretene Gesichter auch in deutschen Regierungskreisen: Kanzlerin Angela Merkel ließ sich nicht anmerken, was sie davon hielt, dass ihr die Amerikaner den Beinamen „Teflon“ verpasst hatten, weil alles an ihr abgleite. Außenminister Guido Westerwelle erfuhr, dass ihn die Verbündeten als „arrogant“ und „opportunistisch“ einschätzten, und durfte lesen, er sei „kein Genscher“ – so das unschmeichelhafte Resümee, das US-Botschafter Philip Murphy nach Washington gekabelt hatte.

Der blassgesichtige Geheimnisverwalter Assange muss sich derweil den Vorwurf gefallen lassen, dass der Medienrummel um seine Person längst das Interesse an den Dokumenten in den Schatten gestellt hat. Für seine Autobiographie hat Assange bereits einen Vorschuss in Millionenhöhe verhandelt; mit Auskünften über sein eigenes Leben geht er aber sparsam um. Assanges Kritiker werfen ihm zudem autoritären Führungsstil und Intransparenz vor. In der Tat ein Widerspruch: Wikileaks will Geheimhaltungsmonopole bekämpfen und neutraler „Helfer des investigativen Journalismus“ sein, schließt aber gleichzeitig exklusive Geheimverträge mit anderen Medien und arbeitet durch die Selektion und Lancierung von Informationen quasi-journalistisch, allerdings ohne sich dabei an transparente journalistische Standards zu halten. Zwar hat Washington die Veröffentlichung scharf verurteilt und auf die potentielle Gefährdung von Informanten hingewiesen. Auch haben die USA nichts unversucht gelassen, um den in Großbritannien weilenden Wikileaks-Gründer Assange für den Geheimnisverrat haftbar machen zu können. Das aber ist nicht leicht: Da Assange – im Gegensatz zu seinen Informanten – rechtlich kein Geheimnisträger ist, kann man ihn juristisch auch nicht wegen Geheimnisverrat belangen. Internen Regierungspapieren zufolge wird auf Seiten der US-Regierung dennoch der Schaden als gering eingestuft, den die Veröffentlichungen amerikanischen Interessen langfristig zugefügt haben. „Ruhig bleiben, weitermachen“, rät auch Zbigniew Brzezinski, als ehemaliger US-Sicherheitsberater ein alter Haudegen der Großmacht-Diplomatie. Natürlich seien einige der Enthüllungen peinlich. „Aber unsere Kabel lesen sich nicht viel anders als die der deutschen Botschafter. Oder die der Russen, Chinesen und Franzosen.“

Britische Depeschen

Wer sich davon überzeugen will, sollte zu der unbedingt lesenswerten Sammlung britischer Depeschen greifen, die letztes Jahr – auch ohne Hilfe von Wikileaks – unter dem Titel „Parting Shots“ in Großbritannien erschienen sind. Mithilfe des britischen Informationsfreiheitsgesetzes war es dem Herausgeber und Times-Journalisten Matthew Parris ganz legal gelungen, Einsicht in die Abschiedsdepeschen zu bekommen, die britische Botschafter am Ende ihrer letzten Mission traditionell ans Außenministerium schicken. „Die Schweizer sind ein unattraktiver Haufen“, kabelte etwa 1978 der britische Gesandte in Bern nach London, „sie sind weder das schönste noch das witzigste Volk“. Wenig charmanter äußerte sich 1970 Sir Anthony Rumbold über den Durchschnittsösterreicher, „der nur an sein Schnitzel denkt“. Die bissigen, unverblümten und oft mit kaustischem Witz verfassten Depeschen beweisen vor allem eins: dass Diplomaten, sobald sie in ihrem Element sind, garantiert undiplomatisch schreiben. Während der Journalismus vom gleißenden Licht der Öffentlichkeit lebt, bedarf die Diplomatie des Halbschattens der Vertraulichkeit. Denn die Vermutung trügt, dass durch die Ausleuchtung diplomatischer Geheimnisse nun eine neue Epoche weltpolitischer Aufklärung eingeläutet ist. Eher wird der Schutzwall dicker werden, den misstrauische Gesandte und Regierungen um ihre Kommunikationsnetze ziehen werden. Ein hoher Preis für den fragwürdigen Erkenntnisgewinn der sensationellen Enthüllungen, der sich am Ende doch in Grenzen hält. Die US-Depeschen zeigen, dass die in den Botschaften verbreiteten Ansichten und Einschätzungen nicht dem öffentlichen Auftreten der Supermacht widersprechen. Dank seiner Gesandten hat Amerika ein ziemlich genaues Bild von dieser Welt und seiner eigenen Rolle in ihr. Diplomaten kochten auch nur mit Wasser, schrieb Bismarck 1851 seiner Frau, „aber eine solche nüchterne, einfältige Wassersuppe, in der auch nicht ein einziges Fettauge zu spüren ist, überrascht mich“. Ein fein gewürztes und nahrhaftes Süppchen, wie es der US-Gesandte in Tunis 2009 für seine Dienstherrin kochte, hätte Bismarck schon eher gemundet. In diesem Fall wurde es sogar zum letzten Gericht eines Diktators.