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Rotary aktuell

Ein Visionär mit vielen Gesichtern

Rotary aktuell - Ein Visionär mit vielen Gesichtern
Paul Harris © Rotary International

Zum 150. Geburtstag von Paul Harris – um die Gründung Rotarys und seinen Initiator ranken sich zahlreiche Mythen

Matthias Schütt01.04.2018

Ein junger Mann vom Lande kommt in die große Stadt – so ähnlich beginnt jede Rede, in der die Anfänge von Rotary International beleuchtet werden. Die Aussage über den jungen Mann – den Rechtsanwalt Paul Percy Harris (1868-1947) – und die große Stadt Chicago ist völlig richtig. Und doch ranken sich um die ersten Tage Rotarys zahlreiche Mythen, die gewollt oder ungewollt die Anfänge des ältesten Serviceclubs der Welt in ein etwas diffuses Licht rücken.

Besonders hartnäckig hält sich der Mythos von den drei Mitgründern, die Paul Harris um sich geschart habe. Der Initiator sowie Silvester Schiele, Hiram Shorey und Gus Loehr hätten nicht nur den Club auf den Weg gebracht, sondern mit ihren Berufen sowie den ethnischen und religiösen Wurzeln auch schon das breite Spektrum gesellschaftlicher Wirklichkeit abgebildet, auf das die internationale Gemeinschaft sich bis heute so viel zugutehält.

Schön wär‘s. Die Wahrheit ist, Shorey und Loehr verschwanden bald von der Bildfläche und spielten für Rotary praktisch keine Rolle. Und was die Ausrichtung des neuen Clubs anbetrifft, so gab es in den Anfangsjahren harte Auseinandersetzung, was man denn eigentlich sein wolle: ein Herrenclub zur Freizeitgestaltung (mit Neigung zu ausufernden Spaßorgien), eine diskrete Wirtschafts-Gemeinschaft, in der sich die Mitglieder gegenseitig Geschäfte zuschoben, oder eine Art gehobener Handelskammer, in die nur die Besten ihres Berufes aufgenommen werden. Wie auch immer: Ein Serviceclub war – jedenfalls vorläufig – nicht vorgesehen. Und von Toleranz im Sinne von Offenheit in alle gesellschaftlichen Richtungen konnte noch keine Rede sein.

Gentleman und Scherzbold
Die Mythen um Rotary gehen zu einem guten Teil zurück auf den Gründer selbst, der es immer wieder verstand, Fakten aus seinem Leben in ein ganz bestimmtes Licht zu rücken. Die Fotos zeigen Harris als noblen Herrn und weisen Führer – er war aber auch ein ausgesprochener Scherzbold, der keine Gelegenheit ausließ, auch nicht im Club, anderen Streiche zu spielen. Zwischen diesen Polen ging Harris seinen Weg, ein Mann mit so vielen Gesichtern, „wie ein Tausendfüssler Füße hat“. So sah ihn sein langjähriger Freund Harry Ruggles im Blick zurück 1952.

Was wir aus den Anfangstagen wissen, stammt aus den Berichten der Zeitgenossen, vor allem von Paul Harris selbst, der lange Jahre als graue Eminenz nur aus dem Hintergrund agierte. Von den vier bekannten Harris-Biografien stammt nur eine von einem Amerikaner. Fred A. Carvin, RC Glens Falls im US-Bundesstaat New York, bietet die jüngste und wertvollste wissenschaftliche Quelle: „Paul Harris and the birth of Rotary“, 2011. Der Autor ging auf intensive Suche in Archiven der verschiedenen Wohn-, Studien- und Arbeitsorte und bei Rotary International und legt seine Erkenntnisse über die allgemein bekannten Fakten, was immer wieder interessante Akzentverschiebungen ergibt.

Zumindest entsteht daraus ein realistisches Bild von Harris, ohne jeglichen Versuch einer unangemessenen Überhöhung. Die aber muss es gegeben haben, wie aus einer Klarstellung von Oren Arnold hervorgeht, einem anderen Harris-Biograf, der 1966 festhielt: „Die Wahrheit ist, er kam nicht auf einem Schimmel und er trug auch kein flammendes Schwert. Er war ein eher sehr durchschnittlicher junger Mann…“

Schwer erziehbares Kind
Allerdings einer mit einem schillernden Werdegang. Harris entstammte einer zerrütteten Ehe und verbrachte Kindheit und Jugend in der Obhut nachsichtiger Großeltern in Wallingford/Vermont. Kennzeichen dieser Jahre war eine von Carvin breit geschilderte Neigung, keinem Spaß aus dem Weg zu gehen und jeder Verlockung zu folgen. Das Resultat ist eine Karriere durch verschiedenste Schulen und Hochschulen, die immer wieder durch Verweise gekappt wurde. Es dauerte bis 1889, seinem 22. Lebensjahr, bis Harris den Ernst der Lage erkannte und zum Jura-Studium nach Des Moines/Iowa zog. Jetzt aber ging es blitzschnell: Vom Eintreffen in der Stadt bis zum Diplom benötigte er nicht einmal zwei Jahre.

Dann nahm er noch einmal eine fünfjährige Auszeit, die er mit Reisen und Jobs als Journalist und Nachtportier ausfüllte, bevor er sich 1896 als Rechtsanwalt in Chicago niederließ. An dieser Stelle zerplatzt ein weiterer Mythos, dass nämlich der junge Mann den Rotary Club gründete, weil er einsam war. Das war er nicht. Harris hatte es immer schon blendend verstanden, Freundschaften zu schließen, so auch in Chicago, wo er schnell Mitglied diverser Clubs und Vereine wurde, etwa des Bohemian Club: Hier lebte der Rechtsanwalt mehr oder weniger inkognito seine Freizeitfreuden bei Vernissagen, Partys und wohl auch am Spieltisch aus.

Harris‘ Ehefrau Jean Thomson (1881–1963) stammte aus Edinburgh in Schottland, wanderte 1907 nach Montreal aus und lebte seit 1910 in Chicago © Rotary International

Der entscheidende Impuls für Rotary kam mit der Einladung in das Heim eines Anwaltskollegen. Tief beeindruckte ihn die Beobachtung auf einem Spaziergang, wie der Kollege von Nachbarn, Geschäftsleuten und Passanten gegrüßt und in Gespräche verwickelt wurde. „Das erinnert mich an mein Dorf in Neuengland. Und ich überlegte, warum man nicht in Chicago einen Freundeskreis mit so sympathischen menschlichen Beziehungen gründen sollte, mit jeweils einem Mitglied aus jedem Beruf, ohne Einschränkungen bezüglich ihrer politischen Haltung und religiösen Einstellung. Jede Meinung sollte dort ihren Platz finden. Ein solcher Kreis könnte auch zur gegenseitigen Unterstützung dienen.“

So Harris in seinem Rückblick „My Road to Rotary“. Biograf Carvin fasst den Gedanken so zusammen: „Pauls Klienten waren Geschäftsfreunde, nicht persönliche Freunde. Er überlegte nun, wie man aus Geschäftsfreunden persönliche machen könne, zumindest aus einigen.“

Die Gründung Rotarys
So entstand der erste Club mit der Besonderheit: jeder Beruf nur einmal. Der Club sollte Geschäftsaustausch, Exklusivität und freundschaftlichen Austausch kombinieren. Das gab es so noch nicht. Und jedes Mitglied musste von allen bestätigt werden. Der erste Punkt galt jedoch schon damals mit Einschränkungen. Im Zweifel sollte der Charakter entscheiden, sodass das Klassifikationssystem sehr elastisch gehandhabt wurde.

Zum Rotary Club wurde die Gemeinschaft genau einen Monat nach dem Gründungstag, am 23. März 1905. Der Name bezog sich nicht auf die wechselnden Treffpunkte als vielmehr auf die interessante Idee, jedes Mitglied nur für ein Jahr aufzunehmen. Danach müsse sich jeder der Wiederwahl stellen. Damit wollte man volle Präsenz erreichen. „Aber das wurde nie ausgeführt“, berichtet Harry Ruggles, der erste vom Gründungsquartett aufgenommene Rotarier. „Wir haben stattdessen Strafgebühren eingeführt. Wer ein Treffen verpasste, egal ob entschuldigt oder nicht, zahlte 50 Cent. Da wir keine Gebühren hatten, waren das die einzigen Einnahmen.“ Ein halber Dollar, so Ruggles weiter, reichte damals für ein gutes Mittagessen.

Ein Wort zu Chicago: Die aufstrebende Metropole am Michigansee, schon damals wichtigster Verkehrsknotenpunkt für Schiff und Eisenbahn, war für viele Zeitgenossen ein Ort unerhörter wirtschaftlicher und sozialer Ausschweifungen. Wolfgang Ziegler, RC Ammersee, der sich intensiv mit den Anfängen Rotarys beschäftigt hat, schrieb 2005 in diesem Magazin, „dass weder Cyrus McCormick, der Gründer der gigantischen International Harvestor Company, noch Pullman, der Eisenbahnkönig, noch Marshall Field, der Kaufhausmagnat, mehr Einkommensteuer zahlte als Carrie Watson, Besitzerin des größten und luxuriösesten Bordells in Amerika“.

Begeistert, erschreckt, abgestoßen – Harris war vermutlich alles zusammen, wie Ziegler fortfährt. Rotary setzte dem ein exklusives Programm an gesellschaftlichem wie auch geschäftlichem Austausch entgegen. Es wurde sogar ein Buchführer ernannt, der die einzelnen Kontakte und Abschlüsse festhielt. Einen regelmäßigen Platz in den Clubtreffen hatten die erwähnten mehr oder weniger harmlosen Streiche. Um nur ein Beispiel zu erzählen: Während eines Meetings trat eine Dame mit schreiendem Baby in die Runde – eine sorgfältig ausgesuchte Schauspielerin – und beschuldigte ein bekannt ehrbares Mitglied, ihr den Unterhalt für das gemeinsame Kind vorzuenthalten. Der Witz, so Ruggles, habe es sogar bis in die Morgenpresse gebracht.  

Kontroverse um Gemeindienst
Der entscheidende Richtungswechsel kam, als Harris 1907 die Präsidentschaft übernahm und zum einen die Ausbreitung Rotarys auch in andere Städte vorschlug, zum anderen aber erste Ideen für den Gemeindienst vorstellte. Das aber stieß auf energischen Widerstand, schließlich sei man bei Rotary zum eigenen Vorteil, nicht zu dem von anderen.

Harris zog alle Register als Präsident – „Ich übernahm die Rolle des Diktators“ – und suchte sich Verbündete im Club. Und so bröckelte bald der Widerstand gegen die Überlegung, dass zum langfristigen Überleben ein höherer Zweck notwendig sei. Dies wurde offiziell zum dritten Ziel. Erstes Projekt wurde eine öffentliche Toilette in der Innenstadt von Chicago.

Um diese Zeit wurde Chesley „Ches“ Perry Mitglied des Clubs, Offizier, Journalist und Kaufmann, ein Multitalent, das von 1910 bis 1942 als Generalsekretär für Rotary tätig war. Obwohl vom Temperament her völlig gegensätzlich, arbeiteten Harris und Perry effektiv zusammen, sodass sowohl die Ausbreitung ab 1908 als auch der Servicegedanke immer stärker in den Vordergrund rückten. Harris später: „Wenn ich als Architekt von Rotary gelte, dann darf Ches mit gleichem Recht als Baumeister bezeichnet werden.“

Paul Harris und Jean Thomson in ihrem Wohnhaus in Chicago. Das Paar war seit 1910 verheiratet © Rotary International

Die erste große Bewährungsprobe für Ches Perry war die Vorbereitung einer nationalen Konferenz, die 1910 in Chicago die Vertreter von bis dahin 16 Clubs zusammenführte. Nach 1908 konnte Rotary in schneller Folge in San Francisco, New York und anderen großen Städten Fuß fassen. Das Treffen führte zur Gründung der National Association of Rotary Clubs, mit Paul Harris als Präsident und Perry als Sekretär.

In den folgenden Jahren spitzte sich die Kontroverse Geschäfte versus Gemeindienst immer stärker zu, Rotary geriet immer weiter unter Druck. In dieser Phase verkündete Harris seine Überzeugung, dass der Servicegedanke letztlich Priorität bekommen müsse.

President Emeritus
Damit aber war das Ende seines Aufstiegs besiegelt. Auf der dritten Convention in Duluth/Minnesota 1912 zog sich Harris nicht nur von der Präsidentschaft, sondern von jeglicher öffentlicher Aufgabe in Rotary zurück. Trotz des Ehrentitels „President Emeritus“, bleibt er auf Jahre hinaus unsichtbar und meldet sich nur über Beiträge im National Rotarian oder mit Grußadressen an Clubs und Conventions zu Wort.

Zu diesem Rückzug nach gerade einmal siebenjähriger Tätigkeit gibt es verschiedene Gründe, einer war, dass die Gangart des Präsidenten Harris vielen Rotariern nicht passte. Privates kam hinzu, etwa die Hochzeit mit Jean Thomsen, die Rotary zeitlebens eher reserviert gegenüber stand. Dann wurde offensichtlich, dass er seine beruflichen Geschäfte vernachlässigt hatte. Und auch gesundheitliche Probleme stellten sich ein.

Erst viele Jahre später wird Harris wieder zu einer öffentlichen Figur, indem er auf Reisen in alle Welt die Idee Rotarys immer neuen Clubs nahebringt. Die Notlagen im Ersten Weltkrieg führten letztlich dazu, dass Rotary zu einer echten Serviceorganisation heranwuchs – und Harris als ihr Initiator immer größeres Renommee gewann. Wie groß, das sollte erst nach seinem Tod 1947 deutlich werden, als aus aller Welt Spenden an die Rotary Foundation eintrafen. Sie schufen das finanzielle Fundament der Stiftung und ermöglichten das erste große Programm: die Ambassadorial Scholarships.

Sein Vermächtnis hat Paul Harris in vielen klugen Gedanken hinterlassen, einer soll hier für alle stehen: „Wer nicht daran interessiert ist, dass es seinem Nachbarn gut geht, muss ein Leben ohne Freude leben. Er wird niemals das Glück erfahren, dass in Freundschaft und Liebe liegt.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Matthias Schütt

Matthias Schütt ist selbständiger Journalist und Lektor. Von 1994 bis 2008 war er Mitglied der Redaktion des Rotary Magazins, die letzten sieben Jahre als verantwortlicher Redakteur. Seither ist er rotarischer Korrespondent des Rotary Magazins und seit 2006 außerdem Distriktberichterstatter für den Distrikt 1940.