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Lebenszeichen aus dem Untergrund
Nominiert für den Grimme-Preis! Ein Dortmunder Jude versteckt sich in den Niederlanden vor den nationalsozialistischen Besatzern und schreibt im Untergrund 484 Gedichte. Die Webseite, mit der ein Rotarier an ihn erinnert, steht in der Endauswahl für einen der wichtigsten Preise.
Erst 80 Jahre nach seinem Entstehen wird dieser erstaunliche Nachlass der Öffentlichkeit präsentiert.
Angefangen hat alles vor drei Jahren über Facebook: Thilo von Debschitz, Rotarier im RC Wiesbaden-Kochbrunnen, erhielt eine Nachricht aus New York. Simone Bloch war seine Monografie über den jüdischen Infografik-Pionier Fritz Kahn in die Hände gefallen, woraufhin sie Kontakt aufnahm. Bloch schrieb, dass sie den kreativen Nachlass ihres Vaters – eines Dortmunder Juden – der europäischen Öffentlichkeit zugänglich machen wolle und dafür Unterstützung suche.
Was der Wiesbadener dann erfuhr, verschlug ihm die Sprache: Curt Bloch (1908–1975) hatte im niederländischen Versteck vor den Nazis 96 kleine Satirehefte herausgegeben, die dann heimlich im Kreise der weiteren „Onderduikers“ und ihrer Unterstützer zirkulierten. In 484 handgeschriebenen Gedichten auf Deutsch und Niederländisch verlieh Bloch seiner Hoffnung, Trauer und Wut Ausdruck, kommentierte historische Ereignisse oder verspottete die deutschen Besatzer. Die Magazine mit dem Titel Het Onderwater Cabaret (Das Unterwasser-Kabarett) entstanden von 1943 bis 1945 und sind allesamt noch erhalten. Denn sie kehrten nach ihrer Runde durch die Häuser des Widerstands wieder zu Curt Bloch zurück und wurden von ihm bei der Emigration nach Amerika mitgenommen. Bei der Familie Bloch schlummerten die Hefte aus dem Untergrund mit mehr als 1700 Seiten seitdem in einer Kiste.
Von New York nach Berlin
Simone Bloch konnte mit diesem Schatz lange nichts anfangen. Ihre Eltern sprachen mit ihr kein Deutsch, die 1959 geborene New Yorkerin erlernte die Sprache erst im Studium. Zur Historie des Holocaust existiert in den USA in weiten Teilen der Gesellschaft kein ausgeprägtes Bewusstsein, sie gehört – anders als in Deutschland – auch nicht zum schulischen Lehrplan. In Blochs Bekanntenkreis gab es niemanden, den diese postkartengroßen Hefte zu interessieren schienen. Und es gelang ihr nicht, vielversprechende Kontakte in die Alte Welt zu knüpfen. Doch mit der Verbindung zum Wiesbadener Rotarier traf Simone Bloch ins Schwarze. Thilo von Debschitz entwickelte mit ihr die Idee einer Webseite, auf der alle Gedichte in drei Sprachen frei verfügbar gemacht werden sollten. Außerdem nahm er einen zwischenzeitlich abgerissenen Kontaktfaden mit dem Jüdischen Museum Berlin wieder auf – mit der Folge, dass sich die Museumsleitung mit der Familie Bloch auf eine Übergabe aller Magazine nach Berlin sowie eine Ausstellung einigte. Die Schau mit dem Titel Mein Dichten ist wie Dynamit wird vom 9. Februar bis zum 26. Mai 2024 gezeigt. Sie enthält alle Originalausgaben von Het Onderwater Cabaret, begleitet von Einblicken in die Herstellung der Titelseiten, die Bloch mit Fotocollagen schmückte. Er gestaltete sie mit Materialien, die ihm zur Verfügung standen, meist Zeitungen und Zeitschriften. Audio lesungen ausgewählter Gedichte und eine Video- Performance lassen Blochs Verse lebendig werden.
Stimmen Sie für dieses Projekt ab! Votieren Sie dafür, dass die Webseite von Thilo von Debschütz und Simone Bloch über den Juden Curt Bloch beim Grimme-Preis als Sieger hervorgeht! Einfach hier anklicken, Projekt auswählen, Daten eintragen, fertig: w1.grimme-online-award.de/goa/voting/ext_voting.pl
Hier noch einmal einen Blick auf die Webseite werfen: curt-bloch.com
Rotarische Unterstützung
Die Webseite versteht sich als Ergänzung und entsteht unabhängig von den Aktivitäten des Museums. Zu ihrer Finanzierung waren sich Thilo von Debschitz und Simone Bloch einig: Der Online-Auftritt sollte ausschließlich über Spenden finanziert werden. Und so begann eine rotarische Erfolgsgeschichte: Das transatlantische Duo hielt bislang über 40 Vorträge in deutschen Rotary Clubs – Bloch war dabei zumeist per Zoom aus New York zugeschaltet. Die beiden präsentierten dem erstaunten rotarischen Publikum die Geschichte des Onderwater-Cabaret und baten dann um finanzielle Unterstützung zur Realisierung des digitalen Projekts. Debschitz stellte große Teile der umfangreichen Arbeiten über seine Designagentur kostenlos zur Verfügung. Viele rotarische Clubs beteiligten sich, auch Spenden von Privatpersonen gingen ein. Debschitz’ Wiesbadener Club steuerte die Anschubfinanzierung bei, dessen gemeinnützige Vereinigung übernahm die Trägerschaft. So konnte mit der gewaltigen Aufgabe begonnen werden. Vor allem die Einbettung, Transkription und direkte Übersetzung von vielen Hundert Seiten stellten sich als große Herausforderung dar. Doch auch hierzu kam Hilfe von Mehrsprachlern aus dem rotarischen Umfeld, zum Beispiel aus dem RC Dortmund-Neutor.
Nach der Präsentation beim Rotary Club Hiddensee, der häufig Zoom-Meetings veranstaltet, offerierte man Simone Bloch gar die Mitgliedschaft. Die Amerikanerin, die auch einen deutschen Pass besitzt, fühlte sich geehrt und nahm das Angebot dankend an. Seitdem hat sich die neue Freundin regelmäßig zugeschaltet – von der US-amerikanischen Ostküste zu den Treffen an der Ostsee.
Ein Projekt auf Dauer Simone Bloch und Thilo von Debschitz wünschen sich, dass die Webseite intensiv von jungen Menschen genutzt wird. „Der aufkeimende Antisemitismus in Deutschland, aber auch weltweit, mahnt uns dazu, möglichst viele Informationen über die Zeit des Nationalsozialismus bereitzustellen“, meint der Wiesbadener. Simone Bloch ergänzt: „Die Lyrik meines Vaters in Reimform – mal traurig, mal heiter – lässt sich auch außerhalb des jüdischen Kontextes lesen. Gewalt, Unterdrückung und Willkür kann man leider überall auf der Welt erfahren.“ Der Online-Auftritt wird fortwährend um wissenswerte Details im unerschöpflichen Kosmos der Gedichte ergänzt. Um die redaktionelle und technische Betreuung dauerhaft zu gewährleisten, sind weitere Mittel erforderlich – hier sind rotarische Clubs zur Förderung eingeladen. Alle Unterstützer werden auf der Webseite aufgelistet.
Zu den Personen, die sich am meisten über die Veröffentlichung von Curt Blochs Gedichten freuen, gehört Ruth Bloch. Die 98-jährige Witwe von Curt ist selbst gebürtige Dortmunderin, hat das KZ Auschwitz überlebt und wohnt gemeinsam mit ihrer Tochter Simone in New York unter einem Dach. Zwar kann sie die Reise zur Ausstellung in Berlin aus Altersgründen nicht antreten, doch die Webseite mit den Gedichten ihres Mannes studiert sie mit großer Freude. Und ab und zu sendet sie Thilo von Debschitz, der mittlerweile ein enger Freund der Familie Bloch geworden ist, Textnachrichten und Emojis aufs Mobiltelefon: „Zuletzt schickte mir Ruth ein rotes Herzchen.“
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Wissenswert
Ausstellung: „Mein Dichten ist wie Dynamit“
9. Februar bis 26. Mai 2024, Jüdisches Museum Berlin, www.jmberlin.de/
Webseite: curt-bloch.com
Wer Spenden möchte oder sich für einen Vortrag interessiert, kontaktiert Thilo von Debschitz unter tvd@q-home.de
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