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Entscheider

Mit Montur und Pulverdampf

Entscheider - Mit Montur und Pulverdampf
Trotz der Kanonen und anderen ausgestellten Waffen glaubt M. Christian Ortner nicht, dass das HGM zur Pilgerstätte für Nationalisten werden könnte. © Regina Hügli

Für M. Christian Ortner, Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien, kann es an einem Ort der gemeinsamen europäischen Geschichte keinen Hurra-Patriotismus geben.

Björn Lange01.10.2019

Das Wiener Arsenal ist ein beeindruckender Gebäudekomplex von 688 mal 480 Metern, für seine 31 Objekte wurden 117 Millionen Ziegel verbaut. Das imposante Herzstück der Anlage bildet das von Theophil Hansen als Zeughaus, Prunksaal und Waffenmuseum errichtete Gebäude, in dem heute das Heeresgeschichtliche Museum (HGM) untergebracht ist. Entlang der 235 Meter langen Front begrüßen den Besucher über 60 Kanonen. M. Christian Ortner, Direktor des Museums, posiert geduldig für Fotos.

Herr Ortner, sind Sie stolz auf die Geschichte Ihres Landes?
Ich bin stolz auf unsere tollen Ausstellungsstücke, aber nicht auf Geschichte allgemein. Es ist eine Frage, wie man mit ihr umgeht. Das Haus vermittelt uns, wie wir heute den Österreich-Begriff sehen sollten. Es ist für mich kein nationaler, sondern ein integrativer Begriff.

Welchen Auftrag hat das HGM?
Wir sind kein Hurra-Patriotismus-Museum, sondern haben schon seit unserer Gründung eine supranationale Ausrichtung. Aufgrund unserer Historie haben wir mit der österreichischen immer auch eine europäische Geschichte zu erzählen. Wegen der waffenrechtlichen Bestimmungen unserer Sammlungen unterstehen wir dem Verteidigungsministerium, sind aber natürlich kein promilitärisches Museum, sondern es ist unser Auftrag, die österreichische Militärgeschichte des ausgehenden 16. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert auf Basis einer wissenschaftlich-objektiven Zugangsweise zu zeigen.

In der Politik Deutschlands und Österreichs hat es in den letzten Jahren einen Rechtsruck gegeben. Hat das Folgen für Ihre Arbeit?
Nein. Wir sind ja eine wissenschaftliche Anstalt öffentlichen Rechts und erhalten von der Politik inhaltlich keine Vorgaben. Ich kann sehr selbstständig meine Sonderausstellungen festlegen. Da geht es mir deutlich besser als vielen Kollegen in anderen Ländern, wo es von rechts wie links immer wieder Versuche der politischen Einflussnahme gibt. Und das halte ich oft für gefährlich.

Könnte Ihr Haus zur Pilgerstätte für Nationalisten werden?
Die österreichische Geschichte ist so brüchig, dass es für mich gar keinen echten Nationalismus geben kann, denn in einem Vielvölkerreich gäbe es zu viele. Es gibt höchstens Patrioten, aber ich verstehe unsere Geschichte nie als eine nationale, sondern immer als eine mitteleuropäische. Die Gratwanderung ist eher, dass Kriegsgerät in Vitrinen oft als „Schatz“ gesehen wird, aber diese Artefakte sind ja auch Gebrauchsgut gewesen und mit Tod und Leid verbunden. Gerade Exponate aus den beiden Weltkriegen muss man anders darstellen als etwa Objekte aus dem 18. Jahrhundert. Wir versuchen, auf aufwendige Installationen und inszenierte Emotionalisierungen zu verzichten. Wir lassen die Objekte für sich selbst sprechen, und das wird uns hoch angerechnet.

Seit Sie 2005 die Leitung übernommen haben, entwickeln sich die Besucherzahlen sehr positiv – von 63.000 im Jahr 2005 über 172.000 im Jahr 2010 bis hin zu 272.000 im Jahr 2018. Wie gelingt Ihnen das?
Die Ideen dazu kommen aus dem ganzen Haus, aber auch von den Besuchern. Zum Beispiel haben sie uns immer wieder erzählt, dass sie Uniformen und Waffen gern in Aktion erleben würden. Seit einigen Jahren bauen wir an jedem zweiten Juliwochenende hinter dem Museum ein riesiges historisches Militärlager auf. Das Festival „Montur und Pulverdampf“ ist eine Zeitreise durch die Jahrhunderte der Militärgeschichte und zieht Tausende Besucher an. Andere hatten sich gewünscht, Militärfahrzeuge in Bewegung zu sehen. An jedem ersten Juniwochenende laden wir zum Festival „Auf Ketten und Rädern“ ein, zu dem zuletzt fast 15.000 Besucher kamen. Darüber hinaus organisieren wir zu besonderen Anlässen Sonderausstellungen mit einem attraktiven Begleitprogramm, zum Beispiel hochklassige Vorträge zu wichtigen Jahrestagen. Und wir haben als erstes Museum in Wien den freien Eintritt für Jugendliche bis einschließlich 19 Jahren eingeführt.

Wie finanziert sich das Museum?
Wir werden aus Bundesmitteln und eigenen Einnahmen finanziert, priorisieren unsere Mittel für Akquisition, Objektpflege und Vermittlung. Die Vermittler bilden wir hier im Haus selbst aus. Wir orientieren uns auch stark an den Lehrplänen der Schulen und haben daher viele Schüler und Studenten im Haus. Unsere Stärke ist, dass wir etwa einer slowakischen und kroatischen Schülergruppe unsere gemeinsame Geschichte ebenso näherbringen können wie einer türkischen und österreichischen. Gerade anhand der ehemaligen multinationalen k.u.k. Armee können wir gemeinsame europäische Geschichte begreifbar machen.

Sind die Österreicher mit ihrer Geschichte im Reinen?
Ich glaube, dass die große Schwierigkeit der österreichischen Bevölkerung darin liegt, dass man gerade im 20. Jahrhundert mehrere historische Brüche erlebt hat, wodurch vielleicht eine gewisse Orientierungslosigkeit entstanden ist. Darum erkenne ich beim Österreicher weniger eine nationale als eine kulturelle Identität, vor allem als Mitteleuropäer, und sehe unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft europäisch. Das Habsburger Reich hat 23 Kriege gegen Frankreich geführt, neun gegen das Osmanische Reich, hatte im Laufe der Jahrhunderte aber auch viele Verbündete. Heute leben wir in einem gemeinsamen Europa. Wie kann es da sinnvoll sein, alte und überholte offensive nationale Positionen einzunehmen?

Sie selbst sind nicht nur Militärhistoriker, sondern auch Brigadegeneral im österreichischen Bundesheer. Hören Sie den Vorwurf, Militarist zu sein?
Ja, manchmal, allerdings bin ich ja kein Berufsmilitär, sondern erst in meiner Zweitfunktion ein Milizoffizier. Ich halte diese Kombination für sehr wichtig, da es mir hilft, historische und aktuelle Militärgeschichte leichter zu verstehen.

In Deutschland und Österreich, so hört und liest man, wird das Heer kaputtgespart.
Das österreichische Heer leidet unter Geldmangel. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat man gedacht, dass die Bedrohung nun vorbei ist und eine Art Friedensdividende genutzt werden kann. Ich glaube, dass sich der seitherige Sparkurs jetzt rächt. Ich denke, wir sollten bei der derzeitigen Heeresfinanzierung von rund 0,6 Prozent des BIP auf mindestens ein Prozent gehen. In Deutschland überlegt man immerhin, die Ausgaben auf zwei Prozent des BIP zu erhöhen. Das könnte ausreichen.

Wie stabil ist der Friede in Europa?
Ich halte ihn grundsätzlich nicht für gefährdet. Aber an einigen Außengrenzen der EU erscheinen die Verhältnisse sehr krisenanfällig, etwa in der Ukraine, in der Türkei, auf dem Balkan. Da braucht es eine aktive Sicherheitspolitik, um die Krisen lokal zu halten. Das wäre für mich eine klassische europäische Aufgabe, keine nationalstaatliche. Da wäre eine bereits auf europäischer Ebene formierte, rasch einsatzbereite militärische Komponente sicherlich sehr sinnvoll. Aber ich befürchte, das wird an nationalen Bedenken scheitern.

Wie wahrscheinlich ist es, dass Deutschland oder Österreich wieder direkt in einen Krieg verwickelt werden?
Derzeit ist das sehr unwahrscheinlich. Deutschland kann als NATO-Mitglied schon eher in einen Konflikt hineingezogen werden. Das Österreichische Bundesheer ist defensiv ausgerichtet, spielt mit derzeit rund 1000 Soldaten im Ausland, vor allem am Westbalkan, aber auch eine wichtige sicherheitspolitische Rolle. Das Engagement ist, gemessen an der Größe unseres Heeres, beachtlich.

Diese Mischung aus Militärgeschichte, Technik und Kunst ist einzigartig. Eine grafische Sammlung gibt es auch. Woher kommen all die Exponate?
Den Hauptbestandteil bilden die kaiserlichen Sammlungen aus der Zeit vor 1918. Kunst war hier zunächst gar nicht erwünscht, das hat sich erst in der Zwischenkriegszeit stark geändert. Da haben das Kunsthistorische Museum und das Belvedere für uns bedeutende Stücke mit militärhistorischem Bezug an uns abgegeben. Zusätzlich sammeln wir sehr aktiv und verzeichnen pro Jahr Zugänge von 3000 bis 5000 Objekten, womit wir zu einem der am schnellsten wachsenden Museen Österreichs gehören.

Unter mehr als 1,5 Millionen Exponaten: Welches ist Ihr Lieblingsstück?
Das ist echt schwierig. Das wechselt mit den Ausstellungen und Forschungsschwerpunkten. Vielleicht ist es der französische Observationsballon von 1796, vielleicht die Objektgruppe vom Attentat von Sarajevo 1914 mit Tatwaffen, Uniform und Fahrzeug. Das macht schon einen besonders wuchtigen Eindruck. Mein Lieblingsbild heißt „Nach der Schlacht“ und stammt von Roland Strasser: Zu sehen ist ein Fuhrwerk mit toten Körpern, davor sitzen desillusionierte Soldaten in zerschlissenen Uniformen, die sich kaum noch vom Dreck abheben. Vom Glanz der einst so prachtvollen k. u. k. Armee war schon im Dezember 1914 nichts mehr vorhanden – das fängt das Bild auf einzigartige Weise ein.

Sie haben eine hohe Präsenz in Ihrem Rotary Club.
Ja, unser Termin am Donnerstag um 13 Uhr ist für mich sehr passend. Es tut mir gut, mal aus dem beruflichen Trott gerissen zu werden, und lässt mich auch ein wenig zur Ruhe kommen. Außerdem genieße ich die Gesellschaft der anderen und deren Erzählungen aus Beruf und Familie. Das Problem an meinen historischen Geschichten ist ja leider, dass man eigentlich immer schon weiß, wie sie ausgehen. 

Björn Lange
Björn Lange arbeitete seit April 2019 zunächst als stellvertretender Chefredakteur des Magazins im Rotary Verlag. Seit Juli 2020 ist er Chefredakteur des Rotary Magazins. Zuvor war er unter anderem Redaktionsleiter des Pressedienstleisters Rheinland Presse Service in Bonn und des B2B-Wirtschaftsmagazins inside B in Offenburg.