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Verbrüdert auch in Krieg und Not

Trotz des Zweiten Weltkriegs und vieler anderer Hindernisse können die Rotarier in Deutschland und Frankreich auf eine mehr als 80 Jahre lange freundschaftliche Zusammenarbeit in Rotary zurückschauen

Matthias Schütt01.08.2017

Wenn ein ganzes Nationalparlament sich auf die Reise zum Besuch eines Nachbar-Parlaments begibt, dann kann man wohl mit Recht von besonderen Beziehungen sprechen. So geschehen am 22. Januar 2003 in Versailles bei Paris. Anlass war der 40. Jahrestag der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags, in dem Deutschland und Frankreich eine enge Zusammenarbeit vereinbart hatten und die jetzt in einer gemeinsamen Sitzung von Nationalversammlung und Deutschem Bundestag gewürdigt wurde.

Der Vertrag von 1963 sucht seinesgleichen: „Es gibt keine zwei Staaten in der Welt“, schreibt die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, „die im öffentlichen und sozialen Leben enger miteinander verbunden sind: sei es in den Konsultationen zwischen dem deutschen Bundeskanzler und dem französischen Präsidenten, auf parlamentarischer Ebene, in 2200 Städtepartnerschaften, in mehr als 180 akademischen Austauschprogrammen, in Kooperationen von Forschungseinrichtungen, in den Begegnungen von bislang acht Millionen jungen Menschen im Austausch über das Deutsch-Französische Jugendwerk oder in bilingualen Kindergärten.“

 

Erste Kontakte

Rotary hat daran einen nicht unwesentlichen Anteil; nicht nur weil die deutschen Rotarier mit keinem Land mehr Clubkontakte pflegen (321), sondern weil rotarische Kontakte mit Frankreich schon zu einer Zeit geknüpft wurden, als die deutsch-französische Freundschaft noch eine Vision von ziemlich mutigen Politikern war. Ende der 1920er Jahre, als der „Geist von Locarno“ noch keineswegs die Bevölkerung dies- und jenseits des Rheins erreicht hatte, knüpfte man erste Kontakte, konkret bei einer Feier des RC Hamburg am 11. April 1928. Hier beschwor Emile Berthod, Präsident des RC Paris, Rotarys „heilige Mission“, „nämlich die, unser gegenseitiges Verstehen zu erreichen und die Freundschaft und Kameradschaft zu begründen, von Mensch zu Mensch, von Club zu Club, von Nation zu Nation“.

Gelegenheit, diesen ersten Kontakt auf ein breites Fundament zu stellen, ergab sich 1930 auf der ersten europäischen Rotary-Konferenz in Den Haag mit 800 Teilnehmern aus 22 Ländern. Da die deutsche und die französische Delegation im selben Hotel untergebracht waren, kam man schnell ins Gespräch und vereinbarte beim Aperitif, künftig im Rahmen eines „Kleinen Ausschusses“ regelmäßig zusammenzukommen. Das „Petit Comité Franco-Allemand“ traf sich künftig regelmäßig jedes Jahr zu Ausschusssitzungen sowie auf internationalen Konferenzen. Das mit vier Vertretern tatsächlich kleine Comité ist der erste Versuch in der Geschichte Rotarys, einen Länderausschuss zu gründen. Bis Juli 1937 konstituierten sich in Europa 29 weitere Comités zwischen 14 Ländern.   

Trotz einiger Irritationen wegen der stärker werdenden nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland gelang es dem Ausschuss, das Interesse am Grenzübertritt zu wecken. Schon im Folgejahr 1931 nutzten über 100 französische Rotarier aus 24 Clubs auf dem Weg zur Rotary Convention in Wien die Gelegenheit, auf Zwischenstopps in Stuttgart und München ihre östlichen Nachbarn kennenzulernen. Diese Bande wurden über die Jahre immer enger. In Nizza, bei der Convention 1937, trafen sich bereits 400 (!) Teilnehmer zu einem deutsch-französischen Frühstück und – wichtiger noch – sorgten die deutschen Teilnehmer durch ihren Vorschlag dafür, dass Maurice Duperrey (Paris) als bislang einziger Franzose zum Präsidenten RI gewählt wurde.

 

Die Selbstauflösung

1937 ist auch das Jahr, in dem Rotary in Deutschland unterging: Die 43 Clubs kamen mit ihrer Selbstauflösung einem Verbot des NS-Regimes zuvor. Und auch in Frankreich waren Rotarys Tage gezählt. 1940 mussten die Clubs im deutsch besetzten Teil die Tätigkeit einstellen. Doch hier wie dort traf man sich weiter im privaten Rahmen und pflegte die Freundschaft, wenn nicht als Rotarier, so doch im rotarischen Sinne.

Dazu gibt es eine Anekdote, die der damalige Präsident RI Frank E. Spain (USA) 1951 erzählte, um zu illustrieren, dass trotz der Gräuel des Zweiten Weltkriegs unter den Rotariern der verfeindeten  Länder ein unverbrüchliches Einverständnis geherrscht habe, an das man jetzt wieder anknüpfen könne: Bei einer geheimen Zusammenkunft von Mitgliedern des verbotenen RC Amiens steht plötzlich ein Vertreter der Besatzungsmacht in der 

Tür. Doch der reagiert anders als befürchtet: „Fahren Sie fort mit Ihrem Treffen, meine Herren. Ich war auch Rotarier in Deutschland vor dem Krieg.“ Ob wahr oder Legende, Fakt ist, dass diese Anekdote genau in das Konzept des Präsidenten passte: Spain wollte den Friedensprozess in Europa durch verstärkte internationale Clubkontakte vorantreiben, gründete bei einem Besuch des RI-Büros in Zürich eine Organisation zum Aufbau von Länderausschüssen und ebnete in einem Rückblick auf seine Europareise im Rotarian (2/1952) alle Unterschiede zwischen Rotariern der Siegermächte wie der Kriegsverlierer einfach ein: „Es gab keinen Krieg zwischen den Rotariern in Europa. Rotarier mussten leiden, weil sie Rotarier waren, in Deutschland, Österreich und Italien.“

 

Erfolgreiche Entwicklung

Durch den Vorschlag der deutschen Teilnehmer der RI Convention in  Nizza wurde Maurice Duperrey zum RI-Präsidenten 1937-38 gewählt

Maurice Duperrey,                    
RI-Präsidenten 1937-38              

Nur mit dieser kühnen Behauptung konnte er überzeugend dafür werben, dass Rotary wie keine andere zivilgesellschaftliche Kraft eine besondere Aufgabe zu erfüllen habe. Spain weiter: „Grenzen waren der Fluch und ihre Beseitigung ist das Rezept zur Lösung der Probleme in Europa. Mauern einreißen, Wunden heilen, in ihren Städten und Gemeinden für den Frieden arbeiten, das ist die individuelle Verpflichtung jedes Rotariers.“

Zu diesem Zeitpunkt – 1951 – waren die Vorbehalte zwischen den Rotariern Frankreichs und Deutschlands bereits gefallen: Zur ersten Zusammenkunft der 24 wiedergegründeten westdeutschen Clubs am 18./19. Mai 1950 in Baden-Baden hatte sich auch Governor Roger Coutant eingefunden, begleitet vom Präsidenten des RC Straßburg und weiteren fünf Franzosen. „Die bedeutsame und sehr herzliche Ansprache des französischen Governors wurde richtunggebend für die Beziehungen (…) und der am folgenden Tage stattfindende Gegenbesuch der Rotarier Haussmann, Beindorff und Hedinger in Straßburg zur Tagung des ostfranzösischen Distrikts darf als der Ausgangspunkt für die (…) Wiedergründung des Länderausschusses betrachtet werden“, heißt es in einem Bericht des Rotarier(2/1955).

Der Erfolg des Länderausschusses, der 1952 in Heidelberg offiziell wiedergegründet wurde und seither regelmäßig zusammentritt, kann an der Entwicklung der Clubkontakte abgelesen werden. 

Es begann in den frühen 50er Jahren mit den Clubs Lille und Köln, schon zehn Jahre später wurden 200 Partnerschaften registriert, um 1990 waren es 300 und Mitte 2012 wurde mit 322 Partnerschaften der Spitzenwert erreicht. Um die Zahl richtig einzuordnen: Fast jeder dritte Club in Deutschland ist mit einem französischen verbunden. Was dieses Netz der Kontakte Tausender Rotarier für den Versöhnungsprozess in Europa geleistet hat, fasste der damalige Vorsitzende der deutschen Sektion, Past-Gov. Hans-Joachim Kay (RC Stuttgart), auf der Rotary-Friedenskonferenz 2012 in Berlin in folgende Worte: „Wenn man die Begründung des Friedensnobelpreises liest, der in diesem Jahr der Europäischen Union verliehen wurde, so können wir Rotarier uns mit gutem Recht einbezogen fühlen.“

 

Neue Impulse erforderlich

Ein deutsch-französisches Treffen auf der RI Convention 1937 in Nizza

Ein deutsch-französisches Treffen
auf der RI Convention 1937 in Nizza

Natürlich ist auch hier die Euphorie der Anfangsjahre einem rotarischen Alltag gewichen, der die Besonderheiten dieses Projekts bisweilen eingeebnet hat. Wie für andere Länderkontakte sind auch im deutsch-französischen Verhältnis immer wieder neue Impulse erforderlich. Georges Wagner-Jourdain, RC Saarbrücken, der die Leitung der deutschen Sektion 2016 übernommen hat, setzt wie sein Vorgänger Kay auf drei Elemente: Kommunikation, Verjüngung der Ausschussmitglieder und gemeinsame Projekte der Partnerclubs. Stolz sind beide darauf, dass es gelungen ist, fast alle deutschen Distrikte im Länderausschuss zusammenzubringen. Neben der Werbung für neue Clubkontakte liegt für Wagner-Jourdain ein Schwerpunkt auf der Kooperation mit der Deutsch-Französischen Hochschule (DFH). Sie organisiert rund 150 binationale Studiengänge über beteiligte Universitäten in beiden Ländern. In einem Rahmenabkommen hat sich der Länderausschuss dazu verpflichtet, den französischen Studierenden Kontakte zu deutschen Rotary Clubs zu vermitteln und damit möglichst einen Zugang auch zum deutschen Alltag.

Wer wissen will, wie man eine vielleicht etwas eingeschlafene Clubpartnerschaft auffrischt, sollte mal mit Erik Fischer, RC Stuttgart-Fernsehturm, sprechen. Seinem Club ist es gelungen, mit dem RC Lyon-Part Dieu eine Partnerschaft aufzubauen, die die Mitglieder beider Clubs in vielfältige Aktivitäten einbindet. Gemeinsame Projekte wie Hands-on beim Spielplatzbau gehen einher mit Treffen zum Wochenende, aber nicht im Luxushotel, sondern im  Landschulheim – mit gemeinsamem Einkaufen, Kochen, Wandern und Spielen, etwa einer Schnitzeljagd in gemischten Gruppen. 

Das klappt, weil die Clubs ideal zueinanderpassen: Beide sind 2008 gegründet, haben viele junge Mitglieder, deren Familien und Kinder selbstverständlich einbezogen sind. So feiert man inzwischen auch mal Weihnachten zusammen und singt dann im gemischten Chor.

 

Clubkontakte fördern

Die Frage, ob sich Clubkontakte unter Westeuropäern nicht vielleicht doch überlebt haben, weil heute der Frieden in diesem Teil der Welt nicht mehr infrage steht, würden nicht nur diese Rotarier mit Nachdruck zurückweisen. Nein, die Kontakte werden weiter gebraucht, wie Kay in seinem Berliner Vortrag betonte. Denn die Hoffnung, es gebe „zwischen unseren Ländern eine automatische Konvergenz der Meinungen und Werte, hat sich nicht bestätigt“. Statt um Krieg und Frieden gehe es heute um Streitthemen wie Kernenergie, Energiewende oder den Umgang mit Staatsschulden. Das sollte durchaus Thema bei rotarischen Treffen sein, so Kay: „Wir müssen die sozialen Konflikte, die es in unseren Ländern gibt, verstehen,  und wir müssen an unseren Freundschaften arbeiten, damit wir mit diesen Unterschieden leben können, ohne uns wieder fremd zu werden.“

Matthias Schütt

Matthias Schütt ist selbständiger Journalist und Lektor. Von 1994 bis 2008 war er Mitglied der Redaktion des Rotary Magazins, die letzten sieben Jahre als verantwortlicher Redakteur. Seither ist er rotarischer Korrespondent des Rotary Magazins und seit 2006 außerdem Distriktberichterstatter für den Distrikt 1940.