Fokus Oktober
Impfskepsis – ein Problem wird akut
Die Rückkehr der Masern ist nur ein Beispiel. Was aus Expertensicht vor allem fehlt, sind Aufklärung und Beratung. Mit den Erfahrungen aus der Polio-Kampagne könnte Rotary in diesem Bereich eine hilfreiche Rolle spielen.
Während die rotarische Welt einen neuen Meilenstein im Kampf gegen die Kinderlähmung feiert – Nigeria ist als drittletztes Land endlich Polio-frei –, steht die Gesundheitsvorsorge in Deutschland vor einer unerwarteten Krise. Beide Entwicklungen sind auf irrwitzige Weise miteinander verbunden und zeigen, wie widersprüchlich heute mit dem Thema Impfen umgegangen wird, das lange Zeit völlig unumstritten war. In Ländern mit schwacher medizinischer Infrastruktur sorgen Massen-Schluckimpfungen, die wesentlich von den reichen Wohlstandsländern finanziert werden, dafür, dass lebensbedrohliche Krankheiten wie die Kinderlähmung verschwinden. Zur gleichen Zeit führen – gerade in den Ländern der Geldgeber – Skepsis und Gleichgültigkeit vieler Menschen dazu, dass vermeidbare Infektionskrankheiten wie die Masern mit Macht zurückkehren.
Was geht das Rotary an? Die Frage ist naheliegend und legitim, könnte aber unangenehm werden. Denn eine faire Antwort müsste einräumen: eine ganze Menge. Nicht nur weil Impfen das Hauptprojekt der internationalen rotarischen Gemeinschaft ist, die über die Jahre 1,9 Milliarden US-Dollar in den Kampf gegen Polio gesteckt hat. Sondern auch, weil Rotary eine Rolle als führende gesellschaftliche Kraft beansprucht. Damit geht eine Verantwortung zur Stellungnahme dort einher, wo Fehlentwicklungen zu Gefährdungen, zum Beispiel im Bereich der öffentlichen Gesundheitsvorsorge führen. Eine kleine Umfrage in den Distrikten ergab allerdings, dass in diesem Bereich noch keine nennenswerten Initiativen bekannt geworden sind.
Zehntausende Kleinkinder ungeimpft
Dabei ist die Impfsituation in Deutschland ohne Übertreibung dramatisch. Das hat gerade erst die Barmer Ersatzkasse in ihrem Arzneimittelreport 2019 herausgearbeitet. „Zehntausende Kleinkinder komplett ungeimpft“ steht als Schlagzeile über dem Report. Die Problematik in den Worten des Barmer-Vorstandsvorsitzenden Prof. Dr. Christoph Straub: „In Deutschland werden immer noch zu wenige Kinder geimpft. Das macht die Ausrottung bestimmter Infektionskrankheiten unmöglich und verhindert den Schutz für all diejenigen, die sich nicht impfen lassen können. Wir brauchen zielgruppenspezifische Impfkampagnen, um die Skepsis und mögliche Ängste vor Impfungen abzubauen.“
Von Einzelfällen kann keine Rede mehr sein, das Problem zieht weite Kreise: Durch unterlassene Impfungen wurde 2017 laut Arzneimittelreport bei Kindern vor Schuleintritt in keiner der 13 wichtigsten Infektionskrankheiten – Windpocken, Keuchhusten, Masern, Mumps, Röteln, Diphterie, Tetanus, Rotaviren, Polio, Hepatitis B, Pneumokokken, Meningokokken C, Haemophilus influenzae Typ b (Hib), HP-Viren (Mädchen) – ein Durchimpfungsgrad von 90 Prozent erreicht. Erst bei einer Impfrate von 95 Prozent ist laut Experten die Voraussetzung für die sogenannte Herdenimmunität erreicht, die nach einem Infektionsfall eine epidemische Ausbreitung verhindert.
Es fehlt an Beratung
Auf die paradoxe Situation – wir kämpfen in Afrika und Asien um 100 Prozent Polio-Schutz, aber sehen tatenlos zu, wie die Masern sich um uns herum ausbreiten – sollte auch Rotary eine Antwort finden. Dass wir dazu in der Lage sind, ist keine Frage. Davon ist Dr. Uta-Maria Kastner überzeugt, die Präsidentin des RC Dillingen/Donau und Leiterin des Gesundheitsamtes im Landkreis Dillingen. Sie weist auf das große Problem unzureichender Beratung hin. „Nach einer aktuellen Studie haben wir es nur mit zwei Prozent überzeugten Impfgegnern zu tun, aber mit einer wesentlich größeren Gruppe, die beim Thema Impfen verunsichert ist und Beratung benötigt. Die Zeit dafür fehlt aber leider oft im Sprechstundenalltag der Ärzte. Hier könnte Rotary eine Lücke füllen, schon durch niederschwellige Angebote wie etwa einen Infostand auf dem Wochenmarkt. Einen Arzt für Fachgespräche dürfte es in jedem Club geben.“
Präsidentin Kastner untermauert ihre These mit einer weiteren bestürzenden Zahl: Nach der erwähnten Studie sind 14 Prozent der über 60-Jährigen weitgehend oder völlig ahnungslos, was ihren eigenen Impfschutz angeht. „Da graben sie fröhlich im Garten herum, haben aber in 20 Jahren ihren Tetanus-Schutz nicht auffrischen lassen.“ Verunsicherung auf der einen und Gleichgültigkeit auf der anderen Seite sind gegenüber den Argumenten der „harten“ Impfgegner letztlich die größere Herausforderung. Zugleich aber eine, der Rotary mit seinem Netzwerk, Know-how und seiner Organisationserfahrung durchaus gegensteuern kann.
Rückblende: Es ist diesen Monat genau zehn Jahre her, dass die deutschen und österreichischen Rotary Clubs erstmals an einem bundesweiten Aktionstag auf die Straße gingen, um für die Polio-Kampagne zu werben. Hintergrund war damals die „Gates Challenge“, bei der die Clubs von RI aufgefordert wurden, als „Match“ auf die Zuwendungen der Bill & Melinda Gates Foundation innerhalb von drei Jahren 200 Millionen US-Dollar aufzubringen (was auch gelang). Ein Großteil der Veranstaltungen des Aktionstages waren mit Auftritten von Betroffenen der Kinderlähmung verbunden, die darüber Auskunft gaben, wie sie ihr Leben mit dieser unheilbaren Krankheit eingerichtet haben.
Unterstützung durch NGOs willkommen
Kontakte wie diese können viel bewegen, gerade wenn es darum geht, in einem brisanten Thema Orientierung zu geben, zu beraten und Ängste abzubauen. Wie wichtig diese Form der Aufklärung ist, streicht Prof. Dr. Detlev Ganten heraus, Präsident des World Health Summit, der Ende Oktober wieder in Berlin stattfindet und die internationale Gesundheitsvorsorge zum Thema hat. „Die Verbesserung der Gesundheit einer Bevölkerung oder gar der Weltbevölkerung“, so Ganten im Interview mit dem Rotary Magazin, „kann niemals ganz allein den Staaten überlassen werden. Der Zivilgesellschaft und den NGOs wie Rotary International kommt in vielfacher Hinsicht eine entscheidende Rolle zu.“ Der Staat könne nur so wirksam handeln, wie die Bevölkerung es mitträgt. Gefragt sind deshalb neben Spenden auch Initiativen, die die richtige Politik zu den Menschen bringt. Ganten: „Die Breite der Diskussion in der Bevölkerung und unterschiedliche Wege der Ansprache vom Kindergarten über die Schule zu Sportvereinen und anderen Gemeinschaften ist entscheidend für den Erfolg.“
Die angesprochenen Zielgruppen sind vielen Rotary Clubs bereits bekannt. Warum also nicht einmal über Projekte zur Impfaufklärung nachdenken? Dazu steht als Partner eine Institution bereit, die professionell dieses Feld beackert, aber durchaus Unterstützung begrüßt: Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) in Köln stellt kostenfreies Informationsmaterial in Form von Broschüren und Vortragsfolien zur Verfügung. Einzige Gegenleistung ist die Beachtung von Urheber- und Nutzungsrechten.
Matthias Schütt ist selbständiger Journalist und Lektor. Von 1994 bis 2008 war er Mitglied der Redaktion des Rotary Magazins, die letzten sieben Jahre als verantwortlicher Redakteur. Seither ist er rotarischer Korrespondent des Rotary Magazins und seit 2006 außerdem Distriktberichterstatter für den Distrikt 1940.
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