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Drill und Rebellion in Echtzeit

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Tonio Schachinger studierte Germanistik und Sprachkunst in Wien. „Nicht wie ihr“, sein erster Roman, wurde mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises ausgezeichnet. © Anna Breit/Rowohlt Verlag

Eine neue literarische Stimme aus Österreich: Tonio Schachinger gewinnt für „Echtzeitalter“ den deutschen Buchpreis

Michael Hametner01.11.2023

Als ich ihm gegenübersaß, bei einer Lesung auf einem Literaturfestival in Deutschland, da kam mir natürlich der Gedanke, dass er der wäre, über den er schreibt: Till, Schüler eines Wiener Elitegymnasiums. Tonio Schachinger, Jahrgang 1992, geboren wegen des Vaters Diplomatendienst in Neu-Delhi, aber eigentlich Österreicher und Wiener, gewann für seinen Roman Echtzeitalter den Deutschen Buchpreis. Der Preis, sagen die Stifter, gilt dem besten Roman deutscher Sprache des Jahres. Jetzt gilt der Preis ihm, Tonio Schachinger, 31 Jahre.

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Wieso sah ich eine Ähnlichkeit zwischen ihm und seiner Hauptfigur? Mit seinem ziemlich akkurat gescheitelten Haar, der Brille, dem feinen Hautteint, seiner schülerhaften Ausstrahlung, wozu seine leicht eingebremsten Emotionen zu gehören scheinen, passt er gut in das Setting seines Romans: das Marianum. Ein Elitegymnasium, von dem es im Roman heißt, es sei das angesehenste in Wien, mit 600 Euro monatlichem Schulgeld. Ich hatte bei meiner Recherche über ihn herausbekommen, dass er bis zur Matura, dem Abitur in Österreich, das Theresianum in Wien besuchte. Am Anfang unseres Gesprächs verbrachten wir einige Zeit damit, zu klären, ob das Theresianum im Roman das Marianum sei. Das hatten schon andere Literaturkritiker gemutmaßt, aber er wies es ab. Er wollte sich sicher unangenehme Enttarnungen, die bei einem Schlüsselroman üblich sind, ersparen. Und er hatte recht. Irgendwie lassen sich über Schulen immer ähnliche Geschichten erzählen. Ein Schulporträt gehörte ganz sicher nicht zu seinem Anliegen.

Alles, was die Eltern wollen

Als nach der Vergabe des Deutschen Buchpreises ein Kritiker die Nase rümpfte und feststellte, der Roman gehe an den so unerträglich gewordenen Konflikten der heutigen Welt vorbei, wiederholte ich für mich den Satz: Ein Schulporträt gehörte ganz sicher nicht zu seinem Anliegen. Schachingers Thema ist viel größer und fällt überhaupt nicht aus der Welt des Jahres 2023. Klar, der Klassenvorstand mit Namen Dolinar ist ein Ekel, der seine Schüler gern quält und keine Gnade kennt. Dieses Bild kommt aus Tills Perspektive, wo Lehrer meist Fratzen zeigen. Der Erzähler widerspricht dem Schülerurteil nicht, denn er hält sich immer bei seiner Hauptfigur auf. Till bietet die Perspektive für den Roman und erspart dem Leser den in der Literatur so beliebten, aber nicht für alles tauglichen Ich-Erzähler. Am Ende des Romans, damit verrate ich keine Pointe, sagt ein ehemaliger Mitschüler: „Im Nachhinein war’s schon cool, was uns der Dolinar beigebracht hat.“ Und Till entgegnet entsetzt: „Spinnst du? Es war die Hölle, du Idiot!“

Der Roman begleitet Till fast zehn Jahre durch diese Schulhölle. Am Anfang schafft er es, im Hintergrund zu bleiben, vor allem bei Dolinar. Aber als der ihn dann auf dem Kieker hat, gibt es keine Schonung mehr. Schachingers Roman verdient sich viele Bezeichnungen: Er ist ein Entwicklungsroman, ein Adoleszenzroman, aber vor allem ist er ein Gesellschaftsroman. Es ist nämlich im Grunde unerheblich, wie viel Ähnlichkeit das Marianum im Roman mit dem realen Theresianum aufweist, es geht ums Ganze. Kein Training des aufrechten Gangs findet für die Schüler statt, es geht vielmehr darum, „ihnen schon früh im Leben erfolgreich abzutrainieren, sich etwas anderes vorzustellen als den von ihren Eltern festgelegten Lebensweg“. Deshalb bezahlen die Eltern ohne Widerspruch das Schulgeld. Es interessiert sie nicht, mit wie viel Wissen ihre Kinder beim Abitur glänzen. Es geht um die standesgemäße Vorbereitung auf höchste Ämter im Land. Das macht Schachingers Roman zu einem Gesellschaftsroman, in dem das Eliteverständnis der in Österreich rechts stehenden Freiheitlichen, aber auch der anderen Parteien, bloßgestellt wird. Der Drill, den die Lehrer den Eltern abnehmen, dient der Zementierung der ökonomischen Ungleichheit.

Spielen zur Rückgewinnung der Freiheit

Läge der Roman 370 Seiten auf diesem Kurs, hätte er vielleicht nicht das Rennen um den Deutschen Buchpreis gemacht. Schachinger stellt dem Drill die Rebellion gegenüber, der Disziplin die Freiheit des Spiels. Till wird während seiner Schulzeit zum Gamer. Er spielt Echtzeitspiele, bei denen man in jeder Sekunde strategische Entscheidungen treffen und ausführen muss. Angesagt ist Age of Empires 2 in den jeweils aktuellen Varianten. Er schraubt über die Jahre in der Schule seine „Elo“-Punktzahl auf 1800, was unverschämt hoch ist und wohin ihm aus seiner Nähe keiner folgen kann. Schließlich wird er der dritte Mann eines Teams, zu dem ein Norweger und ein Kanadier gehören. Sie holen Sieg um Sieg und nicht wenig Siegprämien. Bei einem Match in Shanghai folgen ihnen 55.000 Zuschauer. Till muss Autogramme geben und Interviews. Ganz im Verborgenen bleibt sein Treiben in der Schule nicht, aber so richtig weiß niemand, in welchem Paralleluniversum er sich befindet. Was Tills Mutter „digitale Amokläufe“ nennt, ist seine Rückgewinnung der Freiheit.

Der Leser geht mit Till durch die Welt der Lehrer, seiner Mitschüler und natürlich mit zunehmendem Erwachen seiner Sexualität auch durch die der Mädchen. Auf Umwegen findet er Feli, deren Mutter aufgrund ihrer senegalesischen Abstammung mit Arabella Kiesbauer verglichen wird. Für Till ist Feli eine Verwandte im Geiste der Rebellion. Sie bewirbt sich heimlich bei einem Literaturwettbewerb und gewinnt.

Die Parallelwelt eines Gamers versteht sich im Roman als Protest gegen die fremdgesteuerte Fixierung auf soziale Rollen. Schachinger stellt die Freiheit der Fiktion gegen die Unfreiheit. Für sie reicht die Diktatur eines Elitegymnasiums aus. – Der kritische Ansatz des Autors ist noch größer. Er beschränkt seinen Blick nicht auf Österreich. Was dort als Verteidigung des sozialen Stands gilt, ist in China, wo er als Gamer an einem Turnier teilnimmt, ein gnadenloses Leistungsprinzip, wo von individueller Freiheit nichts übrig bleibt.

Der Roman löst sein soziales Angriffskonzept ganz und gar als Literatur ein. Wie sein Landsmann Thomas Bernhard liebt Tonio Schachinger die Ironie. Da ist von Kindern die Rede, die schon „mit elf wissen, dass sie mehr erben werden, als ihre Lehrer je verdienen könnten“ und die sich „mit zehn so kleiden, wie sie es ihr restliches Leben tun werden: in grüne Polohemden und braune Segelschuhe“.

Der Autor lässt sein Erzählen in zwei Welten stattfinden. Keine sexuellen Übergriffe in schwüler Internatsluft, sondern die stille Rebellion eines begnadeten Spielers. Weil er zur Abschlussklasse des Jahres 2020 gehört, bremst die Pandemie das Ende der Schulzeit aus. Was bei Till noch einige Zeit aussah wie eine aus China mitgebrachte Grippe, erweist sich bald als mehr. Für die Maturanten bedeutet Corona keinen Grund zur Panik. Das Verbot von Nähe befreit von mündlichen Prüfungen. Niemand kann mehr durchfallen, was Till ermutigt, im Deutsch-Abitur leere Seiten abzugeben. Nach seinem Abschied vom Marianum wirkt er wie ein Traumatisierter und sein Satz „Es war die Hölle!“ beendet den Roman.

Für den Leser ist er keine Hölle, sondern ein Glücksfall. Tonio Schachinger steht ab jetzt neben Arno Geiger und Robert Menasse, die als Österreicher den Deutschen Buchpreis bereits gewonnen haben. Und die neuen Bücher von Maja Haderlap und Teresa Präauer, Wolf Haas und Daniel Kehlmann sagen: Nach neuer Literatur aus Österreich zu schauen lohnt!


Infos

 

Tonio Schachinger

Echtzeitalter

Rowohlt Verlag, 368 Seiten, 24 Euro,

in Österreich 24,70 Euro