Peters Lebensart
Ende einer Durststrecke
Nach monatelangen Umsatzausfällen schlägt nun bis auf Weiteres die Stunde der Freiluftgastronomie – mit Improvisation, Kreativität und spontanen Partys
Es wird gezimmert und gebastelt in deutschen Innenstädten. Immer mehr Gaststätten legen sich eine improvisierte Außenterrasse zu, widmen Bürgersteige und Parkbuchten in Bewirtungsraum um. Kreisverwaltungsämter drücken beide Augen zu, um mit aus der Not geborenen Heimwerker-Lösungen der durch Corona gebeutelten Gastronomie zusätzliche Einnahmen zu ermöglichen. Asphalttrinkertum im Straßendschungel erscheint angesichts monatelanger Home-office-Isolation befreiend, verlockend, konjunkturfördernd. Ein emotional ansprechender Begriff aus der Metropole gemütlichen Genießens wurde schnell gefunden: Schanigarten.
„Schani, trag den Garten aussi“, sollen Wiens Wirte der Biedermeierzeit dem jüngsten Kellner, der französisch Jean tituliert wurde, zugerufen haben. Tatsächlich besteht ein ordentlicher Schanigarten nicht aus einem Baumarktverhau, sondern aus einer Tischreihe, die durch grünende Hecken in Blumenkästen von Straße oder Trottoir abgeschirmt wird.
Die zweite Theorie lautet: Schani könnte auch Gianni sein. Die italienischen Eismacher am eleganten Wiener Graben sollen erstmals Tischchen im Freien aufgestellt haben. Das erinnert mich an meine Eltern, wie sie früher über die Münchner Leopoldstraße mit ihren „gelaterie“ staunten: Die Leute da sitzen einfach beim Kaffeetrinken draußen? Einfach so mitten auf der Straße? Ein Lifestyle, der irgendwie an Urlaub im Süden erinnerte – Via Veneto in Italiens nördlichster Stadt! Tatsächlich: Es waren die italienischen Eisdielen, die uns Deutsche erstmals kulinarisch auslüfteten.
Wir haben unsere angestammte Biergarten-Tradition und im Sommer gab es immer schon KännchenCafés auf unseren Rheinterrassen. Aber eigentlich wollte man hierzulande einst beim Trinken, beim Essen eher nicht gesehen werden. Herren zechten in dunklen Ratskellern, und in Eckkneipen machen es gelbliche Butzenscheiben unmöglich, von draußen die Trinkenden zu identifizieren.
Ganz anders die Franzosen: In Paris hatten Restaurants schon im 19. Jahrhundert angefangen, große Fenster einzubauen, um zu sehen, um gesehen zu werden. An der Seine posieren die Gäste direkt auf den Boulevards, Augenweide für Flaneure, Alltagskino mit potenziellem Flirtfaktor.
Freiluftgastronomie ist das Konzept der Stunde, passt zum Sicherheitsbedürfnis nach Social Distancing. Und zu unserer Selbststilisierung, zur neourbanen Lässigkeit. Cool Germany, das bedeutet die Illusion permanenter Freizeitgesellschaft. Herumchillen wie im Beach-Club, in aller Öffentlichkeit schon tagsüber giftroten Spritz, Hugos oder einen Flat White konsumieren, auf der Palette Laptop und Lapsang Souchong nebeneinander plaziert. Oder wir pfeifen gleich auf die Gastronomie und cornern mit Bierbüchsen, zum Leidwesen der Straßenreinigung
Wo’s passt, passt’s. Hotspots mit Syltgefühl wie die sandige Strandperle am Hamburger Elbufer möchte keiner missen. Und es gibt ein Recht auf spontane Partys, auf das Bier aus der Buddel. Aber der Trend hat auch seine Schattenseiten. Nicht nur für Anwohner, die über mit Wummerbässen beschallte Altstadtgassen und morgendliche Müllberge fluchen, wenn ganze Viertel als Partyzone geflutet werden. Ästheten, die unsere Innenstädte durch Open-Air-Gastronomie ziemlich zugerümpelt finden, kann man nur raten: Seht die Schanigärten als Kreativitätswettbewerb, schmunzelt über Details wie Duschvorhänge statt Trennscheiben!
Kurzum, der Drang zur Sonne, die Feierlaune auf der Straße seien in dieser Ausnahmesituation allen gegönnt. Deswegen die totale Gastronomisierung unserer Städte als dauerhafte Zukunftslösung zu propagieren, erscheint naiv.
Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.
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