Peters Lebensart
Gin ist in
Vom kolonialen Seelentröster zum Szenedrink
Mein köstlichster Gin dürfte auch der billigste gewesen sein. Die Flasche lokalen Alkohols kostete im Liquor Store von Pyin Oo Lwin ziemlich genauso viel wie eine aus Singapur importierte Dose Tonic Water. Aber das Vergnügen, in dieser burmesischen Hill Station auf der Terrasse eines kleinen britischen Kolonialhotels herumzulungern, den viktorianischen Droschken zuzusehen und Myanmar Gin zu schlürfen, ließ sich nicht in Münzen bemessen. Manchmal trinkt eben auch das Auge, ja die Fantasie mit – und diese fast cineastische Impression fing die müde Glorie des Raj, des indischen Empires, sinnlicher ein als die schönste aquamarinblaue Flasche „Bombay Sapphire“. Denn Gin and Tonic, Wacholderschnaps gemischt mit der chininhaltigen Limonade des „feever tree“, galt als Allheilmittel gegen Malaria, Melancholie oder einfach koloniale Langeweile.
Szenenwechsel zu den Amsterdamer Grachten: Man kann sich an Gin noch schnapsarchäologischer herantrinken. In Proeflokaalen wie Wynand Fockink wird seit 300 Jahren Genever ausgeschenkt – das Wacholderaroma sollte zunächst auch Fehlbrände übertönen. Englische Truppen machten daraus das Kurzwort Gin, das im 18. Jahrhundert für billigsten Hafenarbeiterfusel stand. „The Gin craze“ mit all den verheerenden sozialen Symptomen der Trunksucht und Alkoholabhängigkeit der arbeitenden Klassen beschäftigte sogar das Parlament und machte die Einrichtung von Pubs, wo alkoholärmeres Bier ausgeschenkt wurde, zu einem Kernanliegen britischer Innenpolitik.
Doch all das ist Schnee von gestern. Viel spannender ist, dass sich der Lieblingsdrink von Queen Mum, der letzten Kaiserin von Indien, zum jugendlichen Szeneshot gemausert hat. Die Zeiten, als man stereotyp Klassiker wie Gordon’s London Dry oder Tanqueray mit Schweppes aufgoss, sind vorbei. Kiezkneipen in Berlin, Pop-up-Bars in München, Hipstertreffs in Hamburg und Hotelketten wie Motel One rühmen sich, Dutzende verschiedener Etiketten auszuschen - ken. Die Palette reicht von Menorca bis Japan, von Schottland bis Südtirol. Noch trendiger: superlokale Feuerwässerchen. German Craft Gin wird idealerweise von Start-ups der heranwachsenden Generation Barfly in Graffiti-verzierten urbanen Hinterhöfen auf Kupferdestillen gebrannt. Der alternative Stadtteil-Gin wird natürlich handabgefüllt und mit handnummeriertem Designeretikett beklebt. Doch eigentlich ist Gin mit seinen Zitrusaromen und exotischen Noten wie Sternanis und Kardamom wenig regional. Deswegen braucht es „story telling“ wie die hübsche Geschichte vom britischen Colonel, der seinen Affen samt Gin-Rezept aus Asien in den Schwarzwald mitgebracht hatte. Und das Zauberwort „botanicals“: Pflanzliche Zutaten von Schwarzwald-Weißdorn bis zu Ceylon-Zimt sorgen bei „Monkey 47“ für den rechten Mix aus Fern- und Heimweh und evozieren eine apothekenhafte Aura geheimer Rezepturen. Der schottische Kult-Gin „The Botanist“ wirbt damit, das Quellwasser-Destillat durch Körbe mit handgepflückten Kräutlein und Blüten von der Whisky-Insel Islay dampfen zu lassen. Woanders sorgen Schiefertrüffel, Eifelkartoffeln oder Braumalz für den identitätsstiftenden Lokalkick.
Da stellt sich eigentlich nur noch die ketzerische Frage, ob es angesichts solcher Finessen und trotz aller Pairing-Tipps für das ideale Tonic Water wirklich sinnvoll ist, die neuen Edel-Gins zu mischen? Früher, als wir noch brav Gin Fizz mit dem Strohhalm aus dem Cocktailglas saugten, haben wir uns nie gefragt, ob pur nicht die beste Nuance wäre.
Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.
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