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Entscheider

„Der Mensch bekommt Zeit, die Stadt Raum“

Entscheider - „Der Mensch bekommt Zeit, die Stadt Raum“
Glänzende Zukunft? Die Premiummarke Audi möchte über moderne Hybride alte und neue Kunden für die Elektromobilität begeistern. © Annette Cardinale

Audi-Werkleiter Helmut Stettner über die Mobilität von morgen und die Rolle des Standorts Neckarsulm

Björn Lange01.09.2019

Wer das Audi-Werk Neckarsulm über die Hafenstraße anfährt, kann die gewaltigen Ausmaße des Werksgeländes lediglich erahnen, nicht aber überblicken. Im Minutentakt fahren Lkw durch Tor 3 ein und aus. Helmut Stettners Büro ist unauffällig, nur ein Bild an der Wand springt ins Auge. Ein Audi R8 auf schwarzem Grund und einige Dutzend Unterschriften. Stettner und sein Team hatten den Anlauf des ersten Sportwagens R8 verantwortet. Als der Chef 2011 als Standortleiter zur FAW/VW Automotive Co. Ltd. nach China ging, schenkte ihm seine Mannschaft das Bild. Seit 2016 ist er als Werkleiter zurück.

Audi ist hinter die Rivalen BMW und Mercedes zurückgefallen. Mit welcher Strategie wollen Sie aufholen?
Wir haben die Herausforderungen im Griff. In Neckarsulm haben wir die A6- und A8-Palette komplett erneuert und beide Modelle mit Mild-Hybrid-Technologie ausgestattet. Eine elektrische Maschine ermöglicht es, den Motor abzustellen, wenn das Fahrzeug beim sogenannten Segeln im Leerlauf fährt, bremst oder stoppt, aber trotzdem schnell wieder zu starten. Viele Modelle gibt es auch als Plug-in-Hybrid, mit dem man mehr als 40 Kilometer rein elektrisch fahren kann. Das ist eine wichtige Antriebstechnologie, um die Kunden an die E-Mobilität heranzuführen. Ab 2020 bauen wir in den Böllinger Höfen in Heilbronn den rein elektrisch getriebenen Audi e-tron GT, mit dem wir zeigen, dass Elektromobilität sehr sportlich sein kann. Das ist ein Katapult – in unter vier Sekunden geht’s von null auf hundert. Darüber hinaus haben wir seit letztem Jahr mit dem e-tron unser erstes vollelektrisches Serienmodell auf dem Markt. Damit zeigen wir, dass wir heute schon die Technologien der Zukunft beherrschen. Beim Bremsen fließt Energie mittels Rekuperation wieder zurück in die Batterie.

Die Muttergesellschaft Volkswagen setzt voll auf Elektromobilität. Ist das nicht zu einseitig?
Das ist die absolut richtige Strategie und auch nötig, wenn wir die Ziele zur CO2-Einsparung erreichen wollen. Da wollen wir Vorreiter sein. Bis 2020 werden wir fünf E-Modelle vorstellen, bis 2025 werden es 20 Modelle sein.

Die Realität zeigt, dass der Kunde keine Elektroautos will. Der Marktanteil in Deutschland liegt bei 2,6 Prozent, in Österreich ist er nicht viel höher.
Wir müssen die E-Mobilität attraktiver machen. Dabei helfen unsere Plug-in-Hybride, weil sie die Elektromobilität mit der hohen Reichweite eines Verbrenners verbinden. Und durch die Verbesserung der Ladeinfrastruktur müssen Bedenken bei potenziellen Käufern ausgeräumt werden. Es ist einfach ein tolles Gefühl, dass bei der Rekuperation nicht nur Energie zurückgewonnen wird, sondern auch die Reichweite wieder steigt. Unsere Kunden signalisieren uns immer mehr Interesse. Von der Agilität und vom Fahrerlebnis sind all unsere Kunden begeistert. Außerdem arbeiten wir in Neckarsulm für den Volkswagen-Konzern am Antriebskonzept Brennstoffzelle, die zukünftig eine deutlich höhere Reichweite als batteriegetriebene E-Modelle hat. So stellen wir sicher, dass wir alle Kundenbedürfnisse abdecken.

Teure Elektroautos zu bauen gelingt vielen. Aber in den unteren Segmenten stimmt die Marge nicht.
Audi ist im Volkswagen-Konzern für die Premiumfahrzeuge zuständig. VW bietet unter anderem E-Modelle im Kompakt-Segment an. Wir kümmern uns in Neckarsulm vorrangig um die Oberklasse – das sind der A6, der A7 und die Luxus klasse, der A8, die wir alle auch als Plug-in-Hybride anbieten. Ab 2020 bauen wir dann auch den vollelektrischen e-tron GT bei uns am Standort.

Wie stellen Sie sich darauf ein, dass viele junge Menschen dem Auto kritisch gegenüberstehen und oft gar kein eigenes Auto mehr besitzen möchten?
Sie möchten zwar keins besitzen, aber doch eins haben, wenn sie es brauchen. Genau das bietet unser Mobilitätsdienst Audi on demand, alles vernetzt und übers Smartphone buchbar. Wir möchten damit jegliche Wünsche nach individueller Mobilität befriedigen.

Welche Rolle spielt Audi im Zwölf-Marken-Konzern von VW?
In Neckarsulm streben wir den Lead in der Digitalisierung der Produktionsprozesse an. Der Trend geht zur Smart Factory, zur komplett vernetzten Fabrik. Wir arbeiten auch an Cloud-Lösungen und stehen, wie der gesamte Konzern, dazu mit dem weltgrößten Cloud-Anbieter in Kontakt. Bereits heute haben wir eine sehr hohe Prozess- und Anlaufkompetenz. Die neuen A6- und A8-Modelle liefen nach sehr kurzer Zeit vom Band. Produktseitig haben wir zum Beispiel konzernweit die höchste Leichtbaukompetenz. Da geht es um den Materialmix für Karosserien. Weniger Gewicht bei mehr Steifigkeit und maximaler Sicherheit. Mit Audi Sport befindet sich auch die sportliche Speerspitze in Neckarsulm, und damit zeigen wir, dass wir als einziger Standort des Konzerns die Klein- und Großserienherstellung parallel beherrschen. Auf diese Weise können wir neue Produktkonzepte in der Kleinserie ausprobieren und dann in Großserie ausrollen.

In der Forschung und Entwicklung nutzen wir die Infrastruktur der Region, kooperieren mit Porsche, dem Karlsruher Institut für Technologie und nutzen die Innovationskraft im Raum Stuttgart und der Rhein/Neckar-Region. 

Und am Bildungscampus Heilbronn können wir punktgenau unser Personal von morgen ausbilden. Das ist wichtig für unsere Zukunftsfähigkeit, immerhin geht es um knapp 17.000 Beschäftigte.

Der neue Audi-Vorstandsvorsitzende Bram Schot sagte kürzlich: „Der Innenraum eines Autos und wie wir dort unsere Zeit verbringen, wird wichtiger als der Antriebsstrang.“ Wie meint er das?
Er blickt weit voraus und spricht das autonome Fahren an. Der Passagier beschäftigt sich nicht mehr mit dem Fahren, sondern regeneriert oder arbeitet. Das Auto erkennt am Wimpernschlag der Augen, ob der Fahrgast müde ist. Dann fahren die Sitze zurück und das Licht wird gedimmt. Es wird kein Lenkrad mehr geben, alles wird intuitiv über Gesten gesteuert. Wir nennen das Level fünf, der Audi Aicon war kürzlich bereits als Studie im Audi-Forum zu sehen. So stellen wir uns das autonome Fahren der Zukunft vor. Faszinierend, eine ganz neue Welt.

Audi forscht schon seit einigen Jahren am autonomen Fahren. Im letzten Jahr gab es dazu eine groß angelegte Studie in Ingolstadt. Welches sind die wichtigsten Erkenntnisse?
Wir haben den Verkehrsfluss der Zukunft in urbanen Räumen simuliert. Die wichtigste Erkenntnis: Der Mensch bekommt mehr Zeit, die Stadt bekommt mehr Raum. Die Fahrzeit im Berufsverkehr lässt sich deutlich reduzieren, wenn mindestens 40 Prozent autonome Fahrzeuge unterwegs sind. Wir schätzen, dass zwölf Prozent mehr Personen in 33 Prozent weniger Zeit unterwegs sein werden. Es wären endlich auch wieder Menschen ohne Führerschein, Ältere oder körperlich Beeinträchtigte individuell mobil. Es gäbe deutlich weniger Unfälle, weil das Auto dank seiner Sensoren und Konnektivität viel schneller reagiert als der Mensch. Und Städte bekämen mehr Raum, weil der Verkehr weniger Platz braucht als heute und die Autos ökonomischer parken.

Aber dazu brauchen Städte erst einmal die Infrastruktur.
Das smarte Auto braucht eine smarte Stadt, eine voll vernetzte City. Der Verkehrsfluss muss intelligent gesteuert werden. Um die Infrastruktur zu installieren, müssen und werden wir mit Großstädten kooperieren. Es laufen dazu bereits Tests in chinesischen Megacitys, in Ingolstadt und San Francisco.

Wann wird die Vision zur Realität?
Das dauert noch. Da gibt es noch einige Herausforderungen zu meistern und das Thema wird uns noch viel Kraft kosten. Eine konkrete Jahreszahl kann man da nicht nennen.

Sie sind als Werkleiter für die Produktion verantwortlich. Wie viel künstliche Intelligenz steckt schon in der Fertigung?
Viel mehr, als viele vermuten. Wir haben zum Beispiel an den Pressen eine selbst lernende Fehlererkennung, die gewährleistet, dass sich ein Fehler nicht wiederholt. Und wir verfolgen Smart-Data-Ansätze, dank derer wir vorhersagen können, wann ein Auto fertig wird. So können wir schlauer disponieren und haben eine Flächeneinsparung im zweistelligen Prozentbereich. Predictive Maintenance ist bei uns auch schon im Einsatz und basiert ebenfalls auf Smart-Data-Ansätzen und intelligenten, selbst lernenden Systemen.

Wie hoch ist die Präsenz in Ihrem Club?
Aus zeitlichen Gründen nicht sehr hoch, Asche auf mein Haupt. Aber als Ausgleich halte ich Vorträge. In Kürze spreche ich in meinem Club zum Thema der Automobilität in 15 bis 20 Jahren. Immerhin bin ich jedes Jahr bei der Rotary Charity Classics dabei, einer Oldtimerrallye für gute Zwecke. Einmal bin ich sie mit meinem Sohn gefahren und wir haben sogar gewonnen. Die Rallye weckt einerseits den sportlichen Ehrgeiz, ist aber andererseits mit viel Liebe organisiert. In diesem Umfeld fühle ich mich sehr wohl.

Sie sind aber auch leidenschaftlicher Motorradfahrer.
Ich habe immer noch meine Honda CB 900 F, die ich mir als 19-Jähriger gekauft habe. Aber sonst fahre ich Ducati. Am Wochenende treffen meine Frau und ich uns mit unseren zwei Jungs oder auch Freunden. Körperliche Arbeit im Garten oder Heim- und Handwerken sind für mich ein optimaler Ausgleich und pure Erholung. 

Björn Lange
Björn Lange arbeitete seit April 2019 zunächst als stellvertretender Chefredakteur des Magazins im Rotary Verlag. Seit Juli 2020 ist er Chefredakteur des Rotary Magazins. Zuvor war er unter anderem Redaktionsleiter des Pressedienstleisters Rheinland Presse Service in Bonn und des B2B-Wirtschaftsmagazins inside B in Offenburg.