Skandal in der Welt der Gelehrten
Der Irrtum der Anderen
Der Historikerstreit als deutsches Gelehrtenstück. Anmerkungen zum Tode des Geschichtsdenkers Ernst Nolte
In strenger Rücksicht auf den anderen“, so wünschte sich Nietzsche jede ersprießliche Diskussion. In Deutschland besteht eine große Bereitschaft zu öffentlichen Gesprächen und Debatten, doch fehlt es oft an der Neigung, die Nietzsche dafür voraussetzte, genau zuzuhören und sich auch auf höchst ungewöhnliche Gedanken unaufgeregt einzulassen. Eine gewisse Rücksichtslosigkeit wird sogar erwartet, wenn es darum geht, politisch unbequeme Meinungen zu bekämpfen. Der Tod des umstrittenen Historikers und Geschichtsdenkers Ernst Nolte am 18. August gibt Anlass, sich mit dieser gelegentlich recht auffälligen Ungeduld zu beschäftigen. Denn der gewandte, zuweilen allzu scharfsinnige Professor wurde von allen, die Öffentlichkeit organisieren, seit dem Juni 1986 gemieden, obschon gerade sie – Journalisten, Politiker, Jurymitglieder, kurzum Sinnstifter und Orientierungshelfer aller Art – andauernd von der Offenheit der Kommunikationsgesellschaft und der Fähigkeit zum Dialog sprechen.
Hintergründe eines Skandals
Ernst Nolte wollte im Juni 1986 auf den Römerberggesprächen in Frankfurt am Main seine noch vorläufigen Überlegungen zu möglichen Einflüssen der sowjetischen Revolution auf die spätere NSDAP und deren revolutionäres Regime vortragen. Seine Dialogpartner schätzten solche Erwägungen nicht unbedingt als belebenden Beitrag für die politische Kultur der Bundesrepublik ein. Ernst Nolte nahm deshalb an der Veranstaltung nicht teil, und nach dem Abdruck seines Manuskriptes in der FAZ vom 6. Juni 1986 entwickelte sich der sogenannte Historikerstreit, in dem es weniger um Historie und Geschichte als um Geschichtspolitik ging sowie darum, wer deren Richtlinien bestimmen darf. Helmut Kohl war damals Bundeskanzler. Er hatte zuvor eine „geistig-moralische Wende“ angekündigt, beruhigte mit Hinweisen auf die Gnade der späten Geburt sich und manche andere im Umgang mit der Geschichte und versuchte bei feierlichen Anlässen, über symbolische Politik ein freundliches Einvernehmen zwischen ehemaligen Siegern und Besiegten einprägsam zu veranschaulichen.
©Faksmile, „Eine Art Schadensabwicklung“ Repro: Franziska May
Wer immer die Bundesrepublik als noch unvollendetes und nun gar gefährdetes sozialdemokratischen Projekt einschätzte, musste bangen, dass dieses gar nicht genug gefestigte neue Deutschland sich wie das alte auf Sonderwegen verirrte, geleitet von einem geistig bequemen Kanzler. Ernst Nolte – ein bis dahin angesehener, wenn auch eigenwilliger Gelehrter – war nur ein Vorwand. Es ging um Macht, auch um die Macht, das öffentliche Gespräch zu unterbrechen oder zu beenden. Im sogenannten Historikerstreit als Machtkampf um die gestaltende Vorherrschaft im öffentlichen Raum erlagen alsbald sämtliche Teilnehmer ihrem Hang zu Gereiztheit und Rücksichtslosigkeit und der damit verbundenen Unlust, sich überhaupt auf die Argumente des Gegners, ja des Feindes genau und gründlich einzulassen. Dieses besorgte Gezänk von Rechthabern gewährte einen lebhaften Unterricht über den Umgang ungeselliger Deutscher miteinander, die sich außer Stande sahen, im irrenden Geist doch immer noch den Geist anzuerkennen. Der Irrtum, nicht der Irrende ist zu verwerfen und zu widerlegen.
Michel de Montaigne beklagte während Reformation und Gegenreformation seine Zeiten, in denen man von einem Dieb nicht einmal mehr sagen durfte, dass er doch immerhin ein schönes Bein habe. Zum freien und geistreichen Gespräch gehört eine gewisse Sympathie für den anderen, für den unerschöpflichen Einzelnen mit seinem unberechenbaren Eigen-Tum; eine Sympathie, die mit der Höflichkeit im Bunde ist. Die Humanität unter diskutierenden Menschenfreunden verliert ihr herzbezwingende Überzeugungskraft, sobald die Absicht die Überhand gewinnt, jemanden fertigzumachen, ihm „die rote Karte zu zeigen“ und moralisch die Kleider vom Leibe zu reißen. Im Vergleich zu den oftmals unüberlegt eifernden Deutschen erweisen sich, trotz mancher heftiger Spannungen, Spanier, Franzosen und Italiener immer noch als verständige Erben einer cultura civilis vitae, einer formalen Lebenskultur, die das Gespräch braucht, weil nur übers Reden die Leute zusammenkommen und einander kennenlernen. Dabei sind Paradoxien oder unerwartete Gedankenspiele unentbehrlich, ja sie würzen erst die Gespräche und sorgen für deren temperamentvollen Fortgang.
Der Reiz des Revisionismus
Italiener und Franzosen, verpflichtet auf noch nicht entkräftete ordnende Übereinkünfte, die auf den Regeln einer sorgsam verfeinerten Konversationskultur beruhen, blieben trotz allen deutschen Lärms weiterhin auf Ernst Nolte neugierig. Wer in Deutschland nach 1986 Ernst Nolte las, machte sich des historistischen Relativismus, des Geschichtsrevisionismus und demokratischer Verantwortungslosigkeit verdächtig. Wer ihn in Italien und Frankreich nicht las, geriet hingegen in den Ruf, ein unbeweglicher Ideologe zu sein, der nicht begriff, dass Geschichtsbilder selber ihre Geschichte haben und sich im dauernden Wandel befinden.
Historikerstreit
Am 6. Juni 1986 veröffentlichte Ernst Nolte in der FAZ den Vortrag „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, den er für die Frankfurter Römerberggespräche vorgesehen, dort aber nicht gehalten hatte. Darin hinterfragte er u.a., warum die Deutschen auch nach 40 Jahren nicht vom II. Weltkrieg und der NS-Diktatur loskommen. Zudem stellte er die These auf, dass der Rassenmord der Nazis eine Art Antwort auf den Klassenmord des Bolschewismus gewesen sei.
Am 11. Juli 1986 kritisierte dann Jürgen Habermas in der ZEIT in dem Artikel „Eine Art Schadensabwicklung“ Noltes Thesen und warf ihm – sowie Michael Stürmer, Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand wegen deren jüngster Publikationen – vor, ein anderes, apologetisches Geschichtsbild in Deutschland etablieren zu wollen. An der folgenden Debatte nahmen alle bedeutenden Historiker aus dem Inland und viele namhafte Stimmen aus dem Ausland teil.
Ernst Nolte hatte stets deutsche Geschichte, auch die der NSDAP und ihres Regimes, als Teil der europäischen Geschichte und der einander berührenden Ideologien behandelt. Geschichte zu verstehen, das heißt, sie zu komplizieren, wie der große Historiker Lucien Febvre zu bedenken gab. Verstehen heißt nicht billigen, es ist allerdings die Voraussetzung, um historischen Wandel erklären und weitere, ihn dynamisierende Zusammenhänge erläutern zu können. Gerade in subtiler Dialektik geschulte kommunistische Historiker – Domenico Losurdo und Luciano Canfora – oder ehemalige Kommunisten wie Francois Furet, aber auch Renzo de Felice, ein Geschichtsdenker in bürgerlicher Tradition, betätigten sich damals als Revisionisten der unterschiedlichen nationalen Geschichtserklärungen oder historisierender Mythen von der Französischen Revolution bis zum italienischen Faschismus. Sie irritierten mit ausdrucksfroher Gewandtheit die Routiniers vieler Richtungen, die sich genötigt sahen, ihre Ideen gründlich zu überprüfen.
Ein deutscher Geschichtsrevisionist konnte auf sie nicht sonderlich verwirrend wirken. Francois Furet, der in der Schreckensherrschaft, im Terror der revolutionären Republik ab 1793 ein Vorspiel für das sowjetische oder nationalsozialistische Terrorsystem sah, konnte sich mühelos mit Nolte verständigen, was keineswegs bedeutete, manche seiner Eigenwilligkeiten zu billigen. Wissenschaft entwickelt sich im ewigen Gespräch. Luciano Canfora und Domenico Losurdo können als Kommunisten weder mit Furet noch mit Nolte in deren Deutung der Schreckensherrschaft und überhaupt der Revolution übereinstimmen. Aber Revisionismus war seit der Wende zum 20. Jahrhundert wegen Karl Kautskys theoretischen Bemühungen eine eminent sozialistische Herausforderung. Er ist unvermeidlich, weil sich die Geschichte im dauernden Übergang zu neuen Formen und Erscheinungen entwickelt und daher Geschichte von jeder Generation nach ihren neuen Erfahrungen anders gedeutet werden muss. In diesem Sinne hat Domenico Losurdo eine brillante Geschichte des Revisionismus und seiner Mythen geschrieben, eben die Geschichte des Kampfes um die wechselnden Deutungen der Geschichte und deren zeittypischen, egozentrischen Täuschungen.
Sehnsucht nach Beständigkeit
Die Italiener als Erben der Römer leben seit der Spätantike mit Zusammenbrüchen und Katastrophen. Viele ihrer jeweiligen Hoffnungen erwiesen sich als Illusionen. Auch die Franzosen können sich über ihre Geschichte nicht einigen. Der Kulturbruch während der Großen Revolution, als die gebildetste Nation in Europa zur barbarischsten wurde, bestätigt, auf ungemütliche Weise, wie sehr Geschichte immer frag-würdig ist und bleibt. Italiener und Franzosen haben deshalb keine Angst vor Historikerdisputen und geschichtspolitischen Kontroversen, sie genießen vielmehr Rede und Gegenrede, weil sich darin Phantasie und Temperament bewähren können. Die Deutschen haben allerdings Angst vor der Geschichte, deren Unbeständigkeit mit ihren wechselnden Geschichtsbildern ihnen ein Unbehagen verschafft, in dem kein Gespräch Halt und Schutz gewährt. Sie möchten ihre Gegenwart der flüchtigen Zeit entrücken und rufen deshalb wie Faust dem Augenblick zu: Verweile doch, du bist so schön. Aber der Wagen, der rollt, wie es in einem ihrer Lieder heißt.
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