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Das Ende einer großen Epoche

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Im November 1918 zerfielen nicht nur die politischen Strukturen der alten Kaiserreiche. Es ging auch eine Welt unter, die weit kultivierter, ökonomisch erfolgreicher und liberaler war als es heute vielfach erscheint.

Eberhard Straub01.09.2018

Eines der letzten großen Ereignisse unmittelbar vor Ausbruch des Krieges war die Premiere des Balletts „Josephs Legende“ am 14. Mai 1914 in der Opéra National de Paris. Dort traf sich die vornehme Welt Europas und feierte sich als eine gemeinsame große Welt, geprägt von aristokratischen Allüren und bezaubernden Lebensformen. Komponist und Dirigent war der Preußische Generalmusikdirektor Richard Strauss, ein geborener Bayer, die Handlung hatten Graf Harry Kessler aus Weimar, Sohn eines Schweizers und einer Irin, sowie der Österreicher Hugo von Hofmannsthal mit italienischen Vorfahren, entworfen. Die Bühnenbilder stammten von dem spanisch-katalanischen Maler José-Maria Sert, verheiratet mit einer der legendärsten Schönheiten, der Misia Sert, einer polnischen Russin mit belgischer Mutter, aufgewachsen in Frankreich, früher die Muse der Maler Henri de Toulouse Lautrec und Jean Renoir. Für die Choreographie war der Russe Michel Fokine verantwortlich. Den Joseph tanzte Leonid Mjasin, französisiert Léonide Massine, und Potiphars Weib, das den keuschen  Joseph bedrängte, die Russin Marie Kussnetzoff, für deren Ruhm die deutsche Firma Rosenthal mit Porzellanfiguren der Tänzerin sorgte.

Diese „gute Gesellschaft“, zu der auch die Künstler gehörten, hatte nichts mit heutigen Global Players und Prominenten zu tun. Denn allein der gute Geschmack und elegante Konversation gewährten den Zugang zu diesen die europäische Lebenskultur repräsentierenden Kreisen. Deutsche und Österreicher gehörten noch ganz selbstverständlich dazu. Ein paar Monate später wurden sie allerdings von Briten und Franzosen als neue Hunnen bekämpft und aus der gesitteten Menschheit und deren Zivilisation ausgeschlossen. Beides – die gesittete Menschheit und deren Zivilisation – identifizierten die Westalliierten mit ihrer Kultur und Lebensart. Die Idee des Westens und der Humanisierung durch dauernde Verwestlichung ward den preußischen Militaristen, Junkern und ihrem Zwilling, den österreichischen, katholischen Reaktionären – angeblich an Despotien gewöhnt und mit der Freiheit nicht vertraut – schroff entgegengestellt.

Selbstverständlich gehörten die Russen, verbündet mit den Westmächten, auf einmal zu den Menschenfreunden und Verteidigern der Freiheit. Dabei hatten gerade die Briten lange in ihnen beharrlich finstere Tartaren bekämpft, die möglichst aus Europa abgedrängt und auf ein Großfürstentum Moskau beschränkt werden sollten. Die Deutschen staunten. Denn sowohl protestantische Briten wie liberale Franzosen, hatten früher in den alten Germanen die Stifter der politischen Freiheit, eben auch ihrer Freiheit, gefeiert und in den Deutschen der Reformation und später in den maßgeblichen Philosophen die großen Befreier zu geistiger Selbständigkeit und Unabhängigkeit gewürdigt. Doch nun wurden jene Deutschen zu ihrer Überraschung nicht mehr als gleichberechtigte Europäer anerkannt.

Das war eine Folge des Weltkrieges, mit der sie nicht gerechnet hatten. Denn seit dem Frieden von Münster und Osnabrück 1648 galt der Feind wie im Duell als ein gleichwertiger Partner, mit dem man sich schlug, wenn alle anderen Mittel versagten, um seiner Interessen und seine Ehre wie das öffentliche Ansehen zu wahren. Dieses Übereinkommen setzten die Westalliierten außer Kraft. Sie revolutionierten damit den Krieg. Sie führten wie vor 1648 und im Mittelalter einen „gerechten Krieg“ gegen Ungerechte, gegen Unholde, gegen Verbrecher. Die Deutschen wurden kriminalisiert. Britische Berichte über deutsche Grausamkeiten im besetzten Belgien übertrafen fast die Schreckensgemälde von türkischen Gräueltaten auf dem Balkan, die fünfzig Jahre früher der liberale Oppositionsführer Gladstone mit grellen Farben entworfen hatte.

 

Entehrung des Gegners

Bevor die Deutschen und ihre Verbündeten überhaupt besiegt worden waren, erlitten sie eine  moralische Niederlage. Sie wehrten sich entschieden gegen die Unterstellungen ihrer Feinde, mit Verfassungsrechten, der Demokratie und den bürgerlichen Freiheiten sowie den Menschenrechten gar nicht vertraut zu sein. Professoren, Politiker und Journalisten erinnerten in trotzigem Patriotismus daran, dass Monarchie und Parlamentarismus einander in Deutschland ergänzten. War in Frankreich oder Großbritannien das Parlament vor allem der Ort, wo die Klassengegensätze aufeinanderprallten, so füge sich im Deutschen Reich als einer sozialen Monarchie das Parlament in die gesellschaftliche Solidarität, deren Symbol der Kaiser und die anderen Herrscher mit ihren Regierungen waren, die auf die Unterstützung von parlamentarischen Mehrheiten angewiesen waren. In Deutschland hatte sich für dessen Verteidiger der Rechts- und Kulturstaat im Sozialstaat vollendet.

 

Gefühle der Überlegenheit

Die Deutschen wiederum wähnten sich deshalb den „kapitalistisch-egoistischen“ Staaten wie Frankreich und England weit überlegen, weil ihr Reich bourgeoise Eigenwilligkeit erfolgreich entschärfte und das Bürgertum insgesamt einer gesellschaftlichen Ordnung einfügte, die dem Bürger keine bevorzugte Stellung einräumte, in der vielmehr alle Staatsbürger und einander gleich waren.

Gerade dieser durch den Staat gewährleistete Ausgleich der Klassen ermögliche eine wahre Freiheit selbsttätiger Mitbestimmung auf vielen Gebieten, wirtschaftlicher Tüchtigkeit, wissenschaftlicher Unabhängigkeit und unbeschränkter künstlerischer Phantasie. Das verschaffte den Deutschen das Ansehen, in dem sie bis vor dem Krieg standen, manchmal beneidet, aber immer anerkannt als unentbehrliches Element der freien Welt, die in Europa sich glänzend manifestierte. Die Verfechter eines deutschen Weges der Freiheit wahrten eine Distanz zur Demokratie und der Tyrannei willkürlicher Mehrheiten mit den naheliegenden Versuchungen, Parteiinteressen zu verabsolutieren statt das Gemeinwohl dabei aus den Augen zu verlieren.

Kurzum, die Deutschen – und auch die meisten Sozialdemokraten unter ihnen – kamen sich den beiden demokratischen Staaten überlegen vor. Sie verstanden gar nicht, warum angebliche demokratische Defizite wie in der Zeit der Religionskriege als Sündenschuld und moralische Unzulänglichkeit bekämpft wurden. Die Moralisierung der Demokratie als innerweltliche Erlösung von sämtlichen Unvollkommenheiten und des Krieges als gerechtes, ja notwendiges Unternehmen, sofern im Namen Demokratie geführt, galt ihnen als ein Umsturz der herkömmlichen Vorstellungen vom Krieg und seiner Rechtfertigung. Die Deutschen stritten, indem sie ihre Position kämpferisch vertraten, für die alteuropäischen Grundsätze, wie sie seit zweieinhalb Jahrhunderten Gültigkeit besaßen. Ihre Niederlage ist mit dem selbstherrlichen Akt verbunden, europäisches Recht außer Kraft zu setzen und damit das alte Europa als veraltet bei Seite zu schieben.

Der Friede von Versailles war deshalb für die besiegten Deutschen so unerträglich, weil sie moralisch in Frage gestellt wurden. Der Kaiser sollte als Repräsentant eines kriminellen Volkes als Kriegsverbrecher angeklagt werden und stellvertretend für alle Deutschen wegen seiner vermeintlichen Schuld am Krieg und im Krieg bestraft werden. Der Friede bereitete keinen Friedenszustand vor, er war – wie manche Briten sagten – a peace to end all peace. Die Deutschen hatten sich 1918/19 in alle Forderungen gefügt, die mit einem Regimewechsel verknüpft sind. Sie gaben sich eine neue Verfassung, reihten sich beflissen unter die Demokraten ein und übernahmen die westliche Ideologie der Humanisierung durch Verwestlichung. Aber sie mussten gleich feststellen – zu ihrer Enttäuschung – dass sie damit nicht moralisch gerechtfertigt waren und von den liberalen Siegern als ihresgleichen behandelt wurden. Auch die Liberalen und Sozialdemokraten, die nach 1918 Deutschland repräsentierten, galten in Versailles als aus der Zivilisation ausgeschlossen.

Das radikalisierte nach dem Krieg und nach Versailles deutsche Bürger, aber auch Arbeiter, die nun veranschaulicht bekamen, dass die Demokratie im Solde des Kapitalismus gerade nicht Freiheit und sozialen Frieden ermöglicht und bewahrt. Die moralische Demütigung der Deutschen untergrub das Vertrauen in die westlichen Heilsversprechen, in die eigene Republik und führte 1933 zum Erfolg der NSDAP, die versprach, das Deutsche Reich  westlicher Bevormundung zu entziehen.

 

Großmächte in Kunst und Kultur

Die ungemeine Enttäuschung über die europäischen und amerikanischen Demokraten, die auch ein demokratisches Deutschland als Feind behandelten oder mit erheblichen Misstrauen betrachteten, war keineswegs ein Zeichen deutscher Unbelehrbarkeit oder bornierten nationalen Trotzes. Deutschland war im Kaiserreich tatsächlich zu einer Großmacht geworden – nicht nur wegen militärischer Rüstung und seiner wirtschaftlichen Kraft, sondern eine Großmacht in Kunst und Wissenschaft, die anziehend auf alle Europäer wirkte und viele dazu überredete, hier zu studieren, zu leben und zu arbeiten, um sich mit unzähligen neuen Tendenzen vertraut zu machen.

Wäre Deutschland ein Dunkeldeutschland gewesen, dann hätte es damals nicht so viel weltweite Aufmerksamkeit auf sich gelenkt mit seinen Malern, Musikern und Architekten, wegen seiner Chemiker, Physiker, Philosophen oder Theologen und Juristen. Deutschland und sein Verbündeter Österreich-Ungarn waren das Laboratorium des kommenden Europas. Hier wurden die Ideen entwickelt, wie eine veraltete Welt verjüngt werden könnte, indem sie sich auf den raschen Wandel in sämtlichen Verhältnissen unverkrampft einließ. Die Veränderungen in der Gesellschaft forderten auch die Politiker heraus – und auch die Soziologen oder Politologen, die ihnen die Umbrüche erklärten, um sie zu befähigen, den neuen Entwicklungen gewachsen zu sein. Ein Prototyp für alle ist Walter Rathenau: Unternehmer, Schriftsteller, Mäzen von Künstlern und Architekten, Freund von Schriftstellern, Professoren oder Politikern, ein Praktiker, der als solcher so erfolgreich war, weil als Schöngeist und Kulturphilosoph dauernd von Ideen herausgefordert, um praktische Lösungen für neue Aufgaben zu finden.

Alles Neue gefällt, so lautete eine Devise im 11. Jahrhundert, als Europa aufbrach, um sich vollständig zu erneuern und überholte Lebensformen abzuschütteln. Um 1900 befand ich Europa unter deutscher Anleitung ebenfalls in einem Aufbruch hin zu einer neuen Moderne, über die es die unterschiedlichsten Vorstellungen gab, die aufeinanderprallten oder sich ergänzten. Wer über Europas Zukunft nachdachte, musste nach Berlin, Leipzig, München, Wien und Budapest reisen. Mitteleuropa war tatsächlich die Mitte Europas.

Im Ersten Weltkrieg ging das bekannte Europa unter. Die Mitte Europas löste sich auf. Europa wurde darüber zu einem völlig ungesicherten Begriff, was zu weiteren Katastrophen führte, deutschen und europäischen. Deutschland mag wieder eine wirtschaftliche Großmacht sein und kann sich einen üppigen Wissenschafts- und Kulturbetrieb leisten, der routiniert vor sich hin schnurrt. Geistige Kräfte gehen nicht von hier aus. Jedenfalls nicht in dem Maße wie in der Wilhelminischen Epoche, die mitten in Europa eine der glänzendsten war, die es in Deutschland und in Europa gegeben hat.


 

Labor der Moderne

Eine neue Studie vergleicht die Geschichte der Wahlen in Preußen und in den USA.

 

Ende Juni 2018 beschrieb die Historikerin Hedwig Richter in einem Artikel in der FAZ das deutsche Kaiserreich um 1900 als ein Laboratorium des demokratischen Aufbruchs. Darin kritisierte sie u.a., dass sich trotz zahlreicher neuerer Studien in Öffentlichkeit und Wissenschaft noch immer die Legende vom „deutschen Sonderweg“ hält – einem Land von Untertanen unter der Pickelhaube.

Zu diesen Studien, die mittlerweile ein differenziertes Bild auf die Vergangenheit werfen, gehört auch Richters eigener Vergleich der Demokratien im Königreich Preußen und in den USA im 19. Jahrhundert. Darin hinterfragt die Autorin mit ihrem innovativen Ansatz, der nicht nur auf Ideen und Gesetzestexte schaut, sondern auch die Wahlpraxis in den Blick nimmt, u.a. die Erzählung vom großen Freiheitskampf des Volkes, der quasi einem anthropologischen Bedürfnis des Menschen nach Partizipation und politischer Verantwortung entspringt. Stattdessen schildert sie, wie das Wahlrecht häufig von oben eingeführt und als Disziplinierungsinstrument der Herrschenden genutzt wurde.

Eine interessante Studie, in der immer wieder erkennbar wird, dass auch das alte Preußen ein Laboratorium demokratischer Entwicklung war.

Eberhard Straub
Dr. Eberhard Straub ist Historiker und Publizist. Zu seinen Büchern gehören unter anderem „Kaiser Wilhelm II. in der Politik seiner Zeit. Die Erfindung des Reiches aus dem Geist der Moderne“ (2008, Landt Verlag) und „Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas“ (Klett-Cotta 2014). Zuletzt erschien „Das Drama der Stadt: Die Krise der urbanen Lebensformen“ (Nicolai Verlag, 2015). eberhard-straub.de