Gedanken zum Deutschland-Buch von Neil MacGregor
Bildreiche Heimatkunde
Gedanken zur Identität unserer Gesellschaft, die sich nicht nur in diesen Tagen auf dramatische Weise verändert, sondern auch in der Vergangenheit immer wieder fundamentalen Wandlungen unterlag.
Neil MacGregors „Deutschland. Erinnerungen einer Nation“, ist ein Katalogband, der im vergangenen Jahr die Ausstellung „Germany. Memories of a Nation“ in London begleitete. Die einzelnen Kapitel bilden somit keine durchgehende Geschichte von den alten Germanen in die Gegenwart. Vielmehr „repräsentieren“ die in Abschnitten wie „Wo liegt Deutschland?“ oder „Ein Deutschland der Imaginationen“ gezeigten Gegenstände, Kunstwerke, Gerätschaften oder Flugblätter schlaglichtartig Ideen, soziale Veränderungen, Vorurteile, Lebensgewohnheiten oder Moden. Ein Leiterwagen ist gleichsam eine Chiffre für Flucht, Vertreibung und Kriegselend bis zurück zum Dreißigjährigen Krieg und der Mutter Courage mit ihrem Karren.
Neil MacGregor weiß, dass erst im 19. Jahrhundert die Geschichte als Argument herangezogen wurde, um ein Volk, einen Staat, eine Nation und deren kulturelle oder religiöse Eigenarten zu bestimmen und darüber eine Identität herzustellen, von der man früher keine Vorstellung hatte. Er beschränkt sich weitgehend auf die Zeit von der Erfindung des Buchdrucks und Luthers bis auf das heutige Deutschland. Zu den eher erwartbaren Orten und Themen des Autors gehören zum Beispiel die Hanse, die Walhalla in Regensburg oder Weimar ebenso wie die Rolle der deutschen Sprache für den Zusammenhalt der Kulturnation in Zeiten der fürstlichen Vielstaaterei oder die Bedeutung von Wurst, Bier und D-Mark für die deutsche Identität unserer Tage. Auf dem Gebiet der Kunst werden Tilman Riemenschneider, Albrecht Dürer, Käthe Kollwitz, Ernst Barlach und das Bauhaus genannt. Überraschender – und in der deutschen Geschichtsschreibung unserer Tage keineswegs mehr selbstverständlich – ist MacGregors Schilderung der Bedeutung von Städten wie Prag und Königsberg, Straßburg und Danzig, die nicht mehr zu Deutschland gehören und dennoch in den Augen des Schotten für das Verständnis der deutschen Identität unverzichtbar sind. Überhaupt gelingt MacGregor mit dem Blick von außen manch interessante Beobachtung. So sieht er mit dem Dreißigjährigen Kriege, der Zerschlagung des alten Reiches unter Napoleon, dem Zweiten Weltkrieg und der anschließenden Teilung vier große Traumata, die bis heute in verschiedener Form auf den Deutschen lasten, wenn sie ihnen selbst im Alltag nicht immer bewusst sind.
Erstaunlicherweise vernachlässigt MacGregor vollständig die Musik, obschon sich die herzlich uneinigen Deutschen einig im Respekt vor ihren berühmten Komponisten sind, denen sie mühelos Größe zubilligen. Dafür werden allerdings gebührend Feinmechaniker, Uhrmacher, Silberschmiede, Juweliere, Porzellanmanufakturen und Kunstschreiner berücksichtigt, die über Deutschland hinaus zur Verfeinerung des Geschmacks erheblich beitrugen. Insofern waren und sind die tüchtigen Deutschen, die der Kulturethnologe MacGregor mit freundlicher Gründlichkeit vorstellt, auch emsig tätig im Reich der Eleganz und Anmut.
MacGregors Buch wurde ursprünglich verfasst, um Briten mit dem Deutschland der Gegenwart und seinem historischen Erbe vertraut zu machen. In Zeiten wie diesen, in denen sich die deutsche Gesellschaft fundamental zu wandeln scheint, kommt es wie eine Erinnerung daher an ein Land, das es schon bald nicht mehr geben könnte.
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