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Otto von Bismarck als Realpolitiker

Im Konzert der Mächte

Vor 200 Jahren, am 1. April 1815, wurde der spätere preußische Ministerpräsident und Reichskanzler in Schönhausen geboren. Die Beiträge dieses März-Titelthemas widmen sich seiner Zeit und seiner Politik – die heute manchmal aktueller sind als gemeinhin angenommen.

Eberhard Straub17.03.2015

Ich habe niemals geglaubt, dass ich in meinen reifen Jahren genötigt werden würde, ein so unglaubwürdiges Gewerbe, wie das eines parlamentarischen Ministers zu betreiben. Als Gesandter hatte ich, obschon Beamter, doch das Gefühl ein Gentleman zu sein. Als Minister ist man Helot. Ich bin heruntergekommen und weiß doch selber nicht wie“. So klagte nicht ohne Koketterie Otto von Bismarck, knapp ein halbes Jahr preußischer Ministerpräsident, am 17. April 1863 seinem alten Studienfreund, dem Amerikaner John Lothrop Motley. Otto von Bismarck besaß ein altadeliges Unabhängigkeitsgefühl, das gar nicht mehr in das „Knirpstum“ fortschreitender Verbürgerlichung passte. Er verachtete die pfiffigen Schlauheiten, die kleinen Betrügereien und Unaufrichtigkeiten, die zum parlamentarischen Alltag gehören. Sie wirkten auf ihn unelegant, kolossal bürgerlich und provinziell.

Mit offenem Visier

Als Diplomat sprach er deutlich und klar über die Absichten seiner Regierung und verabscheute alle Winkelzüge. Offenheit hielt er für die beste Voraussetzung, Vertrauen zu schaffen oder zu erhalten. Seine zuweilen schonungslose Ehrlichkeit hielten manche Virtuosen der Intrige für eine besonders raffinierte Methode, andere zu täuschen und zu überlisten. Doch der Botschafter Bismarck sah darin das beste Mittel, den Interessen seines Landes zu nützen. Er begriff die große Politik als eine dauernde Auseinandersetzung verschiedener Interessen, die aufeinanderprallen, die sich ergänzen können, deren Wettbewerb allerdings auch Neutralität erlaubt, um zu vermitteln. Immer und überall Partei zu ergreifen und aktiver Mitspieler zu sein, verwarf er als unüberlegt, wenn abwarten und beobachten für die eigenen Sicherheit und Ruhe mehr Vorteile verheißt.

Heute macht sich eine Tendenz lautstark bemerkbar, Interessenpolitik und das Denken in Interessensphären als nicht mehr zeitgemäß zu behandeln, weil es mittlerweile kaum noch  um Macht, sondern vornehmlich um Recht und Werte gehe. Die Macht trennt, während Werte versöhnen. So heißt es immer wieder. Dennoch hat die alte Erfahrungstatsache nichts von ihrer Überzeugungskraft verloren: Ohne Macht lässt sich nichts machen. Otto von Bismarck misstraute nicht der Interessenpolitik, sondern ideologischer Politik, die behauptete, nicht von egoistischen Interessen bestimmt zu sein. Wer versuchte, außerhalb seiner Interessensphäre auf die Politik anderer Länder einzuwirken oder gar zu drücken, der „treibt Machtpolitik und nicht Interessenpolitik, die wirtschaftet auf Prestige hin“, wie er am 21. Januar 1887 im Deutschen Reichstag sagte. Der alte europäische Staatsmann sah gerade in der klaren und berechenbaren Absicht, nur die  Interessen des jeweiligen Staates im Blick zu haben, den besten Schutz vor den Unwägbarkeiten eines Aktionismus im Dienste vermeintlich erhabener Ideale, heute Werte genannt. Denn deren Blendwerk und Zauber bringen, wie er fürchtete, halbwegs sichere Ordnung durcheinander und verschlimmern jede schon vorhandene Unordnung.

Otto von Bismarck lehnte moralische Aufrüstung in den internationalen Beziehungen entschieden ab. Als Realpolitiker – ein Wort, das seit 1853 von Ludwig August von Rochau in Umlauf gebracht worden war – misstraute Bismarck den breiten, unbestimmten Begriffen, wie die Menschheit, die Humanität, die Freiheit oder Europa. Wer sich auf diese unpraktischen „Professorenideen“ berufe, wolle nur betrügen. Das meinte früher auch der österreichische Staatskanzler Fürst Clemens Metternich. Bismarck gehörte nie zu dessen Verächtern. Im Gegenteil, er erwies sich später als dessen bester Schüler und Testamentsvollstrecker.

Es waren zwei deutsche Realisten und Skeptiker, die während des 19. Jahrhunderts dafür sorgten, dass Europa zweimal halbwegs zur Ruhe kam in einer Ordnung, die der Absicht galt, die immer beweglichen Interessen der Staaten mit den sich ändernden Zeiten in Übereinstimmung zu halten zum Vorteil und der Sicherheit aller Staaten in Europa. Unter Metternichs diskreter Anleitung wurde 1815 nach 22 Jahren Krieg auf dem Wiener Kongress ein erstes System kollektiver Sicherheit in Europa eingerichtet. Auf Kongressen sollte von nun an mit diplomatischen Mitteln jeder Konflikt entschärft oder wenigstens regional begrenzt werden. Die Voraussetzung für den Frieden war 1815, das besiegte Frankreich nicht als „Schurkenstaat“ oder „Verkörperung des Bösen“, wie man heute sagt, zu kriminalisieren und dauernd unter Beobachtung zu stellen und einer Umerziehung zu unterwerfen. Da ohne ein starkes Frankreich Europa nicht zum Frieden fände, musste es sofort wieder dazu befähigt werden, seine wichtige Stimme und seine Interessen im europäischen Konzert der Großmächte geltend zu machen.

Partnerschaft vor Demütigung

Bismarck hielt sich nach seinen drei kurzen Kriegen daran, im unterlegenen Feind sofort den künftigen Partner zu sehen, der nach einem vernünftigen, maßvollen Frieden vermuten darf, in Preußen und im Deutschen Reich einen Anwalt seiner berechtigten Interessen zu finden. Das galt selbstverständlich auch für Frankreich. Die Staatsräson legte es ihm nahe, dem durch die abermalige Niederlage gedemütigten Nachbar vor allem in Kolonialfragen weit entgegen zu kommen, um eine mögliche Zusammenarbeit vorzubereiten. Dreißig Jahre nach dem deutsch-französischen Krieg hatten zumindest die geistigen, künstlerischen, wirtschaftlichen und persönlichen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland eine außergewöhnliche Intensität erreicht.

Im Krimkrieg zwischen 1852 und 1856 war die Wiener Ordnung Europas in ziemliche Unordnung geraten. Erstmals brachte sich „der Westen“ als ideologische Wertegemeinschaft der Freien, der Menschenfreunde und des aufklärenden Lichtbringer in Stellung gegen Russland als Reich der Finsternis und des Bösen. Das Ziel war, Russland, eine der fünf Großmächte aus Europa abzudrängen und auf ein Großfürstentum Moskau zu beschränken. Das war ein revolutionärer Gedanke, dem sich Preußen verschloss. Es wahrte sorgsam seine Neutralität, sicherte die des Deutschen Bundes und lähmte damit die österreichischen Pläne, die deutschen Staaten mit kräftiger moralischer Aufrüstung auf „den Westen“ und seinen Werteimperialismus zu verpflichten. Das Konzert der Mächte war gestört. Die wechselseitigen Verstimmungen nutzten Bismarck und Cavour, um einen deutschen und italienischen Nationalstaat zu gründen, der in der Wiener Ordnung gar nicht vorgesehen war, die bewusst gegen die Nation und das Selbstbestimmungsrecht der Völker eingerichtet worden war.

Halt aus der Mitte

Das Königreich Italien und das Deutsche Reich entstanden in kurzen Kriegen mit Österreich. Bismarck schonte Österreich, das gebraucht wurde, um zurückzufinden zu einer erneuerten Wiener Ordnung und einer Balance der Staaten, die den Frieden garantierte. Österreich zu „balkanisieren“, es in viele kleine Staaten aufzulösen, würde – wie Bismarck fürchtete – ein Vakuum erzeugen, das Europa vollends aus dem Gleichgewicht brächte und dem Deutschen Reich ein Übergewicht einräumte, das überhaupt nicht erstrebenswert wäre. Eingebunden in Allianzen sollte vielmehr die Hegemonie des Deutschen Reichs möglichst unauffällig bleiben, um diese Vorherrschaft den Staaten in Europa erträglich zu machen. Österreich wurde zum alsbald wichtigsten Verbündeten. Das deutsch-österreichische Bündnis trat an die Stelle preußisch-österreichischer Einigkeit, die Metternich gepflegt hatte und die Mitteleuropa davor bewahrte, Spielplatz für russische oder französische Turnübungen zu werden. Vom Gleichgewicht in der Mitte Europas hing überhaupt die Ruhe in einer europäischen Staatengemeinschaft ab. Darauf verständigten sich 1815 die Großmächte. Bismarck griff auf deren Überlegungen zurück und erweiterte den Zweibund mit Italien zum Dreibund, so dass von Kiel bis Palermo ein geeintes Zentrum Europa Halt gewährte. Das Bündnis der drei Kaiser trat hinzu. Zuweilen fühlten sich einzelne Staaten in Europa in ihrer Bewegungsfreiheit eingeengt, aber sie sahen auch die Vorteile, solange die europäische Mitte stabil blieb.

Das europäische Konzert funktionierte wieder, weil jeder wie im musikalischen Konzert auf den anderen achten und sich vor egoistischen Übertreibungen hüten musste zum Vorteil harmonischer Verbundenheit in einer Interessengemeinschaft. Insofern war Bismarck ein sehr erfolgreicher konservativer Revolutionär. Die gestörte öffentliche Ordnung konnte er noch einmal wieder herstellen, gerade weil er nicht viel von Europa sprach und keinen feuilletonistischen Eifer für geschichtspolitische Sinnstiftung bekundete. Er respektierte Interessen und Interessensphären und sorgte sich geduldig um deren Ausgleich. Bismarck, der skeptische Praktiker, gab sich nie Illusionen über historische Erfolge hin. Ein Staatsmann müsse schon dankbar sein, wenn sein Stückwerk wenigstens für dreißig Jahre Bestand habe. Immerhin erlebte Europa zwischen 1871 und 1914 eine unvergleichliche, nie wieder erreichte Friedensepoche, die auch noch weiter andauerte, als Bismarck, der Lotse, längst von Bord gegangen war. Das ist kein geringes Verdienst eines an Interessen sich orientierenden Realpolitikers. 

Eberhard Straub
Dr. Eberhard Straub ist Historiker und Publizist. Zu seinen Büchern gehören unter anderem „Kaiser Wilhelm II. in der Politik seiner Zeit. Die Erfindung des Reiches aus dem Geist der Moderne“ (2008, Landt Verlag) und „Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas“ (Klett-Cotta 2014). Zuletzt erschien „Das Drama der Stadt: Die Krise der urbanen Lebensformen“ (Nicolai Verlag, 2015). eberhard-straub.de