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Distrikt-Talk

Kinder brauchen Hilfe in der Pandemie

Distrikt-Talk - Kinder brauchen Hilfe in der Pandemie
Stille Flure: In der Pandemie ist auch die Schule anders. © Karola Müller von der Grün

Kontakt mit Freunden und Gleichaltrigen ist für junge Menschen unverzichtbar, denn Freundschaften gehören zum Erwachsenwerden hinzu.

Claus Peter Müller von der Grün14.11.2021

Darum brauchen Kinder und Jugendliche in der Pandemie Hilfe, sagt Katja Becker (RC Marburg-Schloss). Sie ist Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (KJP) am Universitätsklinikum Marburg und Inhaberin des Lehrstuhls für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Im Novembertalk des Distrikts 1820 plädiert sie dafür, dass sich Kindereinrichtungen, Schulen, Vereine aber auch Serviceclubs lokal und regional vernetzen, um jeweils passende Konzepte zu entwickeln und zu koordinieren. "Bieten Sie im Gespräch mit Kindergärten und Schulen ihre Hilfe an", schlägt die Ärztin im Gespräch mit Moderator Jörg Uwe Hahn (RC Frankfurt-Alte Oper) vor. Die Netzwerkarbeit brauche mehr Unterstützung aus der Politik und müsse über das Ehrenamt hinausgehen. Gefragt seien zum Beispiel Konzepte, damit Kinder und Jugendliche außerhalb geschlossener Räume ohne sich zu berühren und mit hinreichendem Abstand Sport treiben können. Kinderarmut sei ein großes Problem, und deren Folgen treten in der Pandemie noch deutlicher zutage, weil arme Familien weniger in der Lage seien, sich selbst zu helfen.

Es sei falsch, mit Blick auf die Restriktionen, unter denen die Kinder und Jugendlichen während der Pandemie leiden, von einer "verlorenen Generation" oder generalisierend von Traumata zu sprechen. Die Kontaktbeschränkungen und der Fernunterricht seien nicht mit den Erlebnissen von Kindern in Kriegs- und Krisengebieten oder mit dem Erlebnis von sexuellem Missbrauch zu vergleichen. Aber das "Gesamtkonzept an Schutzmaßnahmen geht nicht auf" und benachteilige Kinder und Jugendliche, schildert Katja Becker. Das Konzept sei nicht von den Kindern und Jugendlichen her gedacht. Zu Beginn der Pandemie sei von den Kindern und Jugendlichen Solidarität gefordert worden, um die Alten vor einer Infektion zu schützen. Nun ließen sich zu wenige Erwachsene durch eine Impfung schützen, und von den Kindern und Jugendlichen, denen erst spät oder noch gar nicht ein Impfstoff zur Verfügung gestellt werde, werde abermals Solidarität gefordert. Die Kinder und Jugendlichen werden nicht geachtet wegen ihrer praktizierten Solidarität, sondern sie werden in der öffentlich geführten Diskussion als "Übertragungsgefahr" gesehen.

Selbstverständlich aber litten die Kinder und Jugendlichen auch unter den Restriktionen. Die Zahl der Kinder mit psychischen Auffälligkeiten sei von 17 auf 30 Prozent gestiegen. Angst und das Gefühl von Unsicherheit habe unter den jungen Menschen zugenommen, ebenso das Übergewicht auf der einen Seite sowie die Zahl der jungen Patienten mit Essstörungen und Zwangserkrankungen. "Alles, was Freude und Spaß macht, ging auf einmal nicht mehr, wie rausgehen, sich bewegen und Freunde treffen", erinnert Katja Becker an die Auswirkungen der Restriktionen für Kinder und Jugendliche. Diese litten auch unter den Existenzängsten der Erwachsenen, die um den Erhalt ihrer Arbeitsstelle oder den Fortgang ihrer Selbständigkeit fürchteten. In den Familien sei es häufiger zu Streit gekommen als im Alltag vor der Pandemie. Insbesondere aber machten den Kindern und Jugendlichen die Schulschließungen und das Homeschooling zu schaffen, "aber wir hatten keine andere Wahl". Die Suizidalität habe nicht zugenommen, aber es stelle sich die Frage nach den Nachfolgeschäden.

Katja Becker ermutigt dazu, einen anderen Menschen anzusprechen, wenn dieser sich offenkundig nicht wohl fühle. Wir sollten Interesse am anderen zeigen und letztlich das Stigma überwinden, mit dem die Annahme professioneller Hilfe bei psychischen Problemen noch behaftet sei. "Jugendliche holen sich zu selten Hilfe", urteilt Katja Becker, denn sie fürchteten sich vor der Ausgrenzung psychisch Kranker. Darum seien Suizide in dieser Altersgruppe, in der der Tod freilich sehr selten sei, nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache. "Wir müssen am Stigma arbeiten, dass sich Menschen schämen, an psychischen Problemen zu leiden", wünscht sich Katja Becker.

Zur Aufzeichnung des Rotary-Talks: https://rocloud.rotary.de/s/mpTcSY4btkGCKZ4

Claus Peter Müller von der Grün

Claus Peter Müller von der Grün ist Journalist. 1960 in Kassel geboren kehrte er — nach dem Studium in Dortmund und verschiedenen beruflichen Stationen in Dortmund, Düsseldorf und Frankfurt — nach der Wiedervereinigung nach Kassel zurück. Dem RC Kassel-Wilhelmshöhe gehört er seit dem Jahr 2000 an. Im Jahr 2013/14 war er Präsident seines Clubs. Sowohl im Club, als auch auf der Distriktebene war er schon mehrfach in Sachen der Kommunikation aktiv, derzeit ist er Distriktberichterstatter von D1820.